Die Ereignisse überschlagen sich: In weniger als zwei Wochen hat eine Allianz aus Aufständischen in Syrien die Kontrolle über die wichtigsten Städte übernommen und Syriens Machthaber Baschar al-Assad in die Flucht geschlagen. Nach bald 14 Jahren Bürgerkrieg beginnt in dem arabischen Land der nächste große Umbruch.
Eine Rückkehr Assads an die Macht scheint nach seiner Flucht aus Damaskus praktisch ausgeschlossen. In den vergangenen Jahren konnte sich seine schwache Regierung nur mit der Unterstützung Russlands, des Irans, der libanesischen Hisbollah und anderen Iran-treuen Milizen halten. Assad dürfte - wenn er die Flucht überlebte - untertauchen, etwa in Moskau. Auch die Armee, der wichtigste syrische Unterstützer Assads, hat das Ende seiner Regierung verkündet. Syrien wurde seit Jahrzehnten von der Assad-Familie beherrscht, Assads Vater Hafis wurde 1970 zum faktischen Alleinherrscher.
Das ist unklar. Das Bündnis aus Aufständischen, das in großen Gebieten samt der Hauptstadt Damaskus die Kontrolle übernahm, wird angeführt von der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS). Übersetzt heißt das in etwa „Organisation für die Befreiung (Groß-)Syriens“.
Zuvor hatte sie Verbindungen zu den Terrororganisationen Islamischer Staat (IS) und Al-Kaida. Sie sagte sich später aber öffentlichkeitswirksam von diesen los. Anführer Abu Mohammed al-Dschulani tritt seit einigen Tagen mit seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa auf und schlägt eher diplomatische und versöhnliche Töne an. HTS wurden zuvor aber auch Folter und Hinrichtungen vorgeworfen. Die EU und die USA stufen HTS als Terrororganisation ein.
Nein. HTS ist die mächtigste der Rebellengruppen, die sich zum gemeinsamen Kampf gegen Assad mit anderen Gruppen zusammengeschlossen hat. Nach dem Sturz der Assad-Regierung könnte die Rivalität dieser Gruppen aber wieder stärker hervortreten und in einem Machtvakuum auch zu neuen Kämpfen führen. Zudem gibt es im Norden weitere Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden, Kurdenmilizen im Nordosten sowie Zellen der Terrormiliz IS, die Anschläge verüben. Es ist unklar, welche Gruppe oder möglicherweise ein neues Bündnis die Macht übernehmen könnte und auch welche Rolle die Soldaten und andere Sicherheitskräfte spielen, die bisher Assad die Treue hielten.
Mit Assad stürzt Kritikern zufolge einer der größten und brutalsten Machthaber des Nahen Ostens, der unter anderem mit Giftgas und Folter gegen die eigene Bevölkerung vorging. Die nun fallenden Assad-Denkmäler erinnern an den Sturz der Langzeitherrscher im Irak und in Libyen, Saddam Hussein und Muammar Gaddafi. Viele Syrer bejubeln Assads Ende, andere fürchten zugleich eine neue, andere Gewaltherrschaft unter den aufständischen Islamisten. ´
Der Iran verliert mit Assad einen wichtigen strategischen Alliierten. Teheran finanzierte die Assad-Regierung und half ihr militärisch, auch um Syrien als „Korridor“ zur Hisbollah-Miliz im Libanon zu nutzen. Mit dem Machtwechsel in Syrien gerät die iranische Nahostpolitik - und insbesondere der Kampf gegen Erzfeind Israel - in eine Sackgasse. Kritiker werfen der iranischen Führung vor, mit ihrer Fehlkalkulation in Syrien Milliarden US-Dollar in den Sand gesetzt zu haben.
Einige sehen im Sturz Assads sogar den großen Wendepunkt für die sogenannte „Achse des Widerstands“, die der Iran gegen Israel gebildet hat. Nach der Tötung von Hamas-Auslandschef Ismail Hanija sowie Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und nun der Flucht Assads wurden innerhalb weniger Monate drei Spitzenfiguren der „Achse“ ausgeschaltet. Ein Mitglied der Revolutionsgarden (IRGC), die Assads Regierung lange am Leben hielten, vergleiche die Ereignisse in Syrien mit dem Fall der Berliner Mauer, berichtet eine Iran-Reporterin der „New York Times“
Israel beobachtet die Entwicklungen in dem nördlichen Nachbarland Syrien mit großer Wachsamkeit. Der Sturz Assads wird als herber Rückschlag für Israels Erzfeind Iran eingestuft. Weil die wichtige Landverbindung zwischen dem Iran und dem Mittelmeer gekappt ist, dürfte auch eine Wiederaufrüstung der Hisbollah, gegen die Israel bis zu einer Waffenruhe vor anderthalb Wochen Krieg führte, kaum möglich sein. All dies spielt Israel in die Hände.
Aus israelischer Sicht ist der Zusammenbruch von Assads Herrschaft Teil einer regionalen Kettenreaktion, die mit dem Terrorüberfall der Hamas und anderer extremistischer Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 begonnen hat.
Der israelische Analyst Udi Evental spricht von einem „regionalen Erdbeben“ durch den Sturz Assads. Er rechne nun mit mehreren möglichen „Nachbeben“ in der Region. Die islamistische Hamas im Gazastreifen und die schiitische Hisbollah im Libanon seien bereits weitgehend geschlagen. Der „Feuerring“, mit dem iranische Helfershelfer Israel innerhalb gut eines Jahrzehnts umgeben hätten, sei mit den Ereignissen in Syrien praktisch komplett zerstört.
Evental sieht nun bessere Chancen für eine Waffenruhe und einen Geisel-Deal im Gazastreifen nach mehr als einem Jahr des verheerenden Kriegs in dem Küstenstreifen. „Die Hamas hat die Unterstützung der (iranischen) Achse verloren, bleibt allein zurück und signalisiert wachsendes Interesse an einer Einigung.“ Damit biete sich die Möglichkeit, vor einem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident im Januar „reinen Tisch zu machen“, damit man sich „gemeinsam auf die zentrale Bedrohung konzentrieren kann: das iranische Atomprogramm“.
Die Entwicklungen in Syrien werden seit Jahren nicht mehr in Damaskus angestoßen, sondern neben Teheran auch in Moskau und Ankara. Russland hatte Assad im Bürgerkrieg mit Luftangriffen an der Macht gehalten, seine Truppenzahl im Land wegen des Ukraine-Kriegs aber verringert. Moskau dürfte dennoch versuchen, seine wichtigen Luft- und Marine-Stützpunkte an der Mittelmeerküste zu halten, auch wegen ihrer Nähe zu Europa und zur Sicherung seiner Interessen in Afrika.
Bei Russland wie der Türkei, die Gebiete im Norden Syriens besetzt hält, ist unklar, inwieweit es künftig Absprachen geben könnte mit den neuen Machthabern im Land. Experten vermuten, dass die Türkei die Offensive zumindest billigte, um Druck auf Assad auszuüben. Dieser hatte eine Normalisierung mit der benachbarten Türkei bisher abgelehnt - zum Unmut des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dieser möchte wegen der Spannungen im eigenen Land unter anderem Flüchtlinge nach Syrien zurückführen. Erdogan hat zudem deutlich gemacht, dass er eine Ausweitung der Präsenz von kurdischen Milizen an der Grenze zur Türkei nicht dulden wird.
Die USA haben ihrerseits noch einige Hundert Soldaten in Syrien stationiert zum Kampf gegen die Terrormiliz IS. Sie waren aber auch eine Art westlicher Keil tief im Einflussgebiet des Irans. Nach dem Amtsantritt Trumps in Washington, der schon 2019 einen US-Truppenabzug aus Syrien angeordnet hatte, könnten sich die militärischen Kräfteverhältnisse dort erneut ändern. Trump stellte jetzt klar, er wolle nicht, dass sich die USA in irgendeiner Form in die Krise in Syrien einmischen, weil es nicht ihr Kampf sei.
Ein sicheres Land für eine Rückkehr war Syrien in vergangenen Jahren keineswegs. Diejenigen, die im Bürgerkrieg ab 2011 vor Assads Truppen, seinen Verbündeten oder anderen bewaffneten Gruppen flüchteten, könnten nun dennoch über eine Rückkehr nachdenken. In der benachbarten Türkei leben mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge und viele weitere im Libanon, Jordanien und Ägypten. Im Bürgerkrieg wurden mehr als 14 Millionen Menschen vertrieben, etwa die Hälfte davon im eigenen Land.
Am 31. Oktober hielten sich in Deutschland laut Ausländerzentralregister 974.136 syrische Staatsgehörige auf. Die Mehrheit von ihnen sind Flüchtlinge beziehungsweise Asylbewerber. In den ersten elf Monaten dieses Jahres stellten 72.420 Menschen aus Syrien erstmals beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) einen Asylantrag. Von den Flüchtlingen, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen, sind inzwischen etliche deutsche Staatsbürger geworden.
Wie sich die neue Lage auf die Flüchtlingssituation auswirken wird, hängt davon ab, ob es nach dem Sturz von Assad einen weitgehend friedlichen Übergang gaben wird oder ob Selbstjustiz und Machtkämpfe für neue Instabilität sorgen. „Sollte sich die Situation positiv entwickeln, würden etliche Syrer zurückkehren wollen“, sagt der fluchtpolitische Sprecher von Pro Asyl, Tareq Alaows, der Deutschen Presse-Agentur. Andere, die in Deutschland Arbeit gefunden und eine Familie gegründet hätten, wollten dagegen bleiben und würden die alte Heimat wohl nur noch besuchen wollen. Der Aktivist sagt: „Über 600.000 Menschen aus Syrien leben in Deutschland mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis. Sie brauchen Sicherheit.“
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