Außenministerin Annalena Baerbock berät mit dem palästinensischen Ministerpräsidenten Mohammed Mustafa über die künftige Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Die PA könnte aus Sicht der Grünen-Politikerin in einer Nachkriegsordnung im Gazastreifen eine wichtige Rolle spielen. Bei dem Gespräch in Ramallah im Westjordanland dürfte es auch um die Reformbemühungen der Autonomiebehörde gehen.
Vor dem Treffen mit Mustafa ließ sich Baerbock vom Leiter des deutschen Vertretungsbüros in Ramallah, Oliver Owcza, von einem Aussichtspunkt aus die Lage im Westjordanland und im Grenzgebiet zu Israel zeigen. Kritiker werfen vor allem den rechtsextremistischen Teilen der israelischen Regierung vor, die PA durch Einschnitte bei den israelischen Zahlungen an die Autonomiebehörde strangulieren zu wollen. Dadurch könnten etwa Gehälter von PA-Bediensteten teils nicht mehr gezahlt werden.
Auf der Herzlija-Sicherheitskonferenz bei Tel Aviv hatte Baerbock am Vorabend erklärt, wenn man wolle, dass die PA irgendwann die Rolle der legitimen Regierungsbehörde in Gaza übernehme, müsse diese in der Lage sein, das zu gewährleisten - auch mit Polizei- und Sicherheitskräften.
Sie warnte: „In der gegenwärtigen Situation ist es gefährlich und kontraproduktiv, etablierte PA-Strukturen zu zerstören und zu destabilisieren.“ Genau das bewirke aber die illegale Ausweitung israelischer Siedlungsprojekte im Westjordanland.
Baerbock strebt wie viele Partner in Europa, den USA und der Region eine Zweistaatenlösung zwischen Israelis und Palästinensern an, bei der ein unabhängiger palästinensischer Staat friedlich Seite an Seite mit Israel existiert. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu lehnt eine solche Lösung ebenso ab wie die islamistische Hamas.
Ein Treffen Baerbocks mit Netanjahu ist diesmal nicht geplant. Bei der jüngsten Unterredung zwischen beiden Politikern Mitte April war es zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen. Es ist bereits die achte Reise Baerbocks nach Israel seit der blutigen Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober.
Deutschland stellt weitere 19 Millionen Euro für humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen zur Verfügung. Unter Lebensgefahr bringe das UN-Palästinenserhilfswerk UNWRA und das Welternährungsprogramm „Mehl und Reis zu hungernden Familien, denn für die Kinder in Gaza ist jede noch so kleine Mahlzeit überlebenswichtig“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock. Jede Kiste medizinisches Material der Weltgesundheitsorganisationen werde helfen, in zerstörten Krankenhäusern im Gazastreifen „wieder ein Minimum an medizinischer Versorgung zu ermöglichen“, ergänzte sie.
Mit dem Geld sollen unter anderem Lebensmittelkörbe finanziert werden, die 90 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs decken und beispielsweise Mehl, Reis, Zucker, Öl, Kichererbsen und Milchpulver enthalten.
Im Gazastreifen bricht die öffentliche Ordnung nach Angaben des Chefs des Palästinenserhilfswerks UNRWA, Philippe Lazzarini, zusammen. Viele Lastwagen mit Hilfsgütern würden gestoppt und geplündert, die Fahrer bedroht. Unternehmer wollten keine Lastwagen für Hilfsgüter mehr zur Verfügung stellen, sagte Lazzarini in Genf. Es seien die ersten Anzeichen von sich ausbreitendem Chaos.
In dem Küstenstreifen gebe es alle möglichen Schmuggelgeschäfte, unter anderem mit Zigaretten, die pro Stück teils mehr als 20 Euro kosteten. Auch in Hilfskonvois seien geschmuggelte Zigaretten gefunden worden. Lazzarini betonte, dass die Konvois von Dienstleistern durchgeführt worden seien, nicht von UN-Angestellten. In einer Rede vor dem Aufsichtsgremium des Hilfswerks hatte Lazzarini bereits am Montag drastische Worte für die Zustände im Gazastreifen gefunden: So bezeichnete der UNRWA-Chef die Lage vor Ort als „Hölle“. „In den vergangenen neun Monaten haben wir ein beispielloses Versagen der Menschlichkeit erlebt“, sagte Lazzarini laut Redetranskript. Mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen befänden sich „in einem Alptraum, aus dem sie nicht erwachen können“.
Baerbock traf sich in Jerusalem mit Ex-General Benny Gantz, der kürzlich Netanjahus Kriegskabinett verlassen hatte, weil die Regierung keinen Plan für eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen erarbeitet. Bis heute hat Netanjahu einen solchen Plan nicht vorgelegt - wohl auch, um seine ultrarechten Koalitionspartner, von denen sein politisches Überleben abhängt, nicht vor den Kopf zu stoßen. Diese fordern eine Wiedererrichtung israelischer Siedlungen im Gazastreifen. Über Inhalte des Gesprächs wurde zunächst nichts bekannt.
Nun will Baerbock auch mit ihrem Kollegen Israel Katz zusammenkommen. Im Mittelpunkt dürften dabei das Vorgehen Israels im Gazastreifen sowie die dramatische humanitäre Lage der Zivilbevölkerung dort stehen. Später ist ein Treffen mit Angehörigen von Entführungsopfern geplant, die weiterhin im Gazastreifen festgehalten werden.
Vor dem Hintergrund wachsender Sorgen vor einer Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der proiranischen Hisbollah-Miliz im Libanon fliegt Baerbock am Nachmittag in den Libanon weiter. In der Hauptstadt Beirut sind vor der Rückreise nach Berlin Gespräche mit dem geschäftsführenden Ministerpräsidenten Nadschib Mikati und dem geschäftsführenden Außenminister Abdullah Bou Habib geplant.
Bei der Herzlija-Konferenz hatte Baerbock einen vollständigen und nachweisbaren Rückzug der schiitischen Hisbollah-Miliz aus dem Grenzbereich des Libanons zu Israel verlangt. Die Zunahme der Gewalt an der Nordgrenze Israels bereite große Sorgen. „Das Risiko einer unbeabsichtigten Eskalation und eines umfassenden Krieges wächst täglich. Daher ist äußerste Vorsicht geboten“, sagte Baerbock.
Israel will durch diplomatischen Druck erreichen, dass sich die Miliz hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht - so wie es eine UN-Resolution vorsieht. Notfalls sei Israel aber auch zu einem größeren Militäreinsatz bereit, warnte der israelische Verteidigungsminister Joav Galant kürzlich.
Israel erklärt derweil eine weitere Geisel im Gazastreifen für tot. Das Forum der Geiselfamilien teilte am Montagabend mit, Mohammed Al-Atrasch sei bereits während des Hamas-Massakers am 7. Oktober getötet worden. Seine Leiche sei von Terroristen in den Gazastreifen verschleppt worden.
Der 39-Jährige hinterlasse 13 Kinder von zwei Frauen. Die israelische Armee bestätigte den Tod des Soldaten mit dem Dienstgrad eines Oberfeldwebels.
Bei israelischen Luftangriffen im nördlichen Gazastreifen hat es nach palästinensischen Berichten zahlreiche Tote gegeben. Die israelische Armee teilte mit, in der Nacht zum Montag seien zwei Gebäude im Norden des Küstenstreifens beschossen worden, in denen sich Terroristen aufgehalten hätten. Darunter seien auch Terroristen, die am Massaker am 7. Oktober beteiligt gewesen seien und Geiseln festgehalten hätten. Die Gebäude befänden sich im Flüchtlingsviertel Al-Schati und in Daradsch Tuffah.
Palästinensische Medien im Gazastreifen berichteten von mindestens 13 Toten bei dem Angriff in Al-Schati. Darunter soll sich nach unbestätigten Berichten auch eine Schwester des Hamas-Auslandschefs Ismail Hanija befinden.
Bei einem israelischen Luftangriff in Chan Junis im Süden des Gazastreifens wurden nach Krankenhausangaben unterdessen mindestens sieben Palästinenser getötet. Nach Angaben von Einwohnern der Stadt hatten die Getöteten im Auftrag der Hamas humanitäre Hilfslieferungen begleitetet.
Hilfsorganisationen warnen vor dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und Chaos. Erstmals seit Wochen gab es in der israelischen Küstenstadt Aschkelon wieder Raketenalarm. Nach Angaben von Sanitätern verletzten sich zwei Menschen, als sie in Schutzräume liefen. Mehrere andere erlitten demnach Schocks.
Bei einer Ansprache im israelischen Parlament in Jerusalem bekräftigte Netanjahu, der Krieg werde nicht enden, bevor alle 120 Geiseln - die Lebenden und die Toten - wieder zurückgekehrt seien. „Wir sind dem israelischen Vorschlag verpflichtet, den US-Präsident Biden begrüßt hat. Unsere Position hat sich nicht verändert“, sagte er. Netanjahu unterstrich gleichzeitig das Ziel der Zerstörung der Hamas. Außerdem werde man „um jeden Preis und auf jede Art die Absichten des Irans, uns zu zerstören, vereiteln“.
Auch ultraorthodoxe Männer müssen derweil zum Wehrdienst in der israelischen Armee verpflichtet werden. Dies entschied Israels höchstes Gericht einstimmig. Das Urteil gilt als herber Rückschlag für die rechtsreligiöse Regierung des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
Die neun Richter in Jerusalem stimmten zwei Petitionen zu, die eine sofortige Einberufung wehrpflichtiger ultraorthodoxer Männer gefordert hatten. „Auf dem Höhepunkt eines harten Krieges ist die Belastung durch eine ungleiche Verteilung der Bürde größer denn je, und erfordert eine Lösung“, hieß es in der Urteilsbegründung. Es gebe keine juristische Grundlage, um Ultraorthodoxe von der Wehrpflicht zu befreien.
Der Chef des UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA bezeichnet die Lage im Gazastreifen als „Hölle“. „In den vergangenen neun Monaten haben wir ein beispielloses Versagen der Menschlichkeit erlebt“, sagte Philippe Lazzarini am Montag vor dem Aufsichtsgremium der Organisation in Genf, wie aus einem Transkript hervorgeht. Mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen befänden sich „in einem Alptraum, aus dem sie nicht erwachen können“.
Das „katastrophale Ausmaß“ des Hungers dort sei das Ergebnis menschlichen Handelns, sagte Lazzarini demnach. „Kinder sterben an Unterernährung und Dehydrierung, während Lebensmittel und sauberes Wasser in Lastwagen warten.“ Zudem habe der Zusammenbruch der zivilen Ordnung zu „hemmungslosen Plünderungen“ und Schmuggel geführt. Lazzarini rief dazu auf, die „entscheidende Rolle“ des UNRWA zu schützen. Es müsse seine Arbeit fortsetzen können, bis eine politische Lösung in Sicht sei.
In Washington traf Israels Verteidigungsminister Joav Galant mit US-Außenminister Antony Blinken zusammen. Sie sprachen über die Bemühungen um eine Waffenruhe in Gaza, die zu einer Freilassung der israelischen Geiseln und zu Erleichterungen für die palästinensische Bevölkerung führen könnte. Blinken habe Gallant über die aktuellen diplomatischen Bemühungen um Sicherheit und Wiederaufbau in Gaza nach Beendigung des Konflikts informiert, sagte Sprecher Matthew Miller.
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