Die Bundesregierung hat sich für die vollständige Aussetzung des europäischen Visa-Abkommens mit Russland ausgesprochen. Ein solches Vorgehen könne im EU-internen Streit über mögliche Einreisebeschränkungen für Russinnen und Russen eine „ganz gute Brücke“ sein, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Rande der Kabinettsklausur der Bundesregierung auf Schloss Meseberg in Brandenburg.
Der deutsche Ansatz sei ziemlich in der Mitte zwischen denjenigen, die gar keine Visa an Russen mehr vergeben wollten und denjenigen, die einfach weitermachen wollten wie bisher.
Nach Angaben von Baerbock gehört zu dem deutschen Vorschlag auch, dass Mehrfachvisa mit einer Gültigkeitsdauer von mehreren Jahren gar nicht mehr ausgestellt werden. Zudem sollten besonders betroffene Länder Visumanträge sehr genau prüfen können. Der Vorschlag soll an diesem Mittwoch bei einem informellen EU-Außenministertreffen in Prag diskutiert werde.
Eine vollständige Aussetzung des europäischen Visumerleichterungsabkommen mit Russland könnte die Kosten und den Aufwand für Antragsteller deutlich erhöhen und es EU-Staaten erlauben, die Visa-Vergabe für den Schengen-Raum deutlich einzuschränken. Bislang wurde das 2007 in Kraft getretene Abkommen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine offiziell nur für Geschäftsleute, Regierungsvertreter und Diplomaten außer Kraft gesetzt.
Aus deutscher Sicht müssten nicht nur Journalisten oder bekannte Oppositionelle, sondern zum Beispiel auch Studenten weiter die Möglichkeit haben, in die EU zu reisen, betonte Baerbock. Die kritische Zivilgesellschaft sollte nicht bestraft werden.
Hintergrund der Äußerungen von Baerbock ist die seit Tagen anhaltende Diskussion darüber, ob verhindert werden sollte, dass Russen für Einkaufstouren und Urlaube in die EU reisen, während in der Ukraine Tausende Menschen wegen des Krieges sterben. Bei dem EU-Außenministertreffen in Prag soll im Idealfall eine einheitliche EU-Linie zu der Frage und zu möglichen Maßnahmen gefunden werden.
Der CDU-Politiker und Europaabgeordnete David McAllister äußerte am Dienstag Verständnis für Befürworter eines harten Kurses, warnte aber auch vor zu weitgehenden Maßnahmen. „Ich verstehe, dass viele Europäer Schwierigkeiten haben zu sehen, dass diese Menschen immer noch die Art und Weise genießen, wie wir in Europa leben, dass sie ihren Urlaub am Mittelmeer verbringen oder in europäischen Städten einkaufen“, sagte der Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten in Prag. Man brauche aber einen differenzierten Ansatz, um offen für russische Bürger zu bleiben, die sich gegen „die Diktatur von Wladimir Putin“ wendeten.
In einem deutsch-französischen Positionspapier zum Außenministertreffen heißt es noch weitergehender, dass man den Einfluss, der von der unmittelbaren Erfahrung des Lebens in Demokratien ausgehen kann, nicht unterschätzen sollte. Dies beziehe sich insbesondere auf künftige Generationen. „Unsere Visapolitik sollte dies widerspiegeln und weiterhin in der EU zwischenmenschliche Kontakte zu russischen Staatsangehörigen ermöglichen, die nicht mit der russischen Regierung in Verbindung stehen“, heißt es in dem an andere EU-Staaten verschickten Papier.
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