Eine Analyse von EU-Beamten zur Wirtschaftslage in Ungarn soll vor dem EU-Sondergipfel zu weiteren Ukraine-Hilfen offensichtlich Druck auf Regierungschef Viktor Orban ausüben. In dem von der „Financial Times“ enthüllten Dokument wird darauf hingewiesen, dass im Fall eines Scheiterns des Gipfels wegen Orban andere Staats- und Regierungschefs einen Stopp sämtlicher EU-Zahlungen an Ungarn ins Gespräch bringen könnten. Dies könne dann wiederum zu sinkenden ausländischen Investitionen und zu einem weiteren Anstieg der Finanzierungskosten des Staatsdefizits und einem Währungsverfall führen.
Als gefährlich gilt dies, weil Ungarn schon heute zu den EU-Staaten mit den höchsten Staatsdefiziten zählt und mit einer sehr hohen Inflation zu kämpfen hat. So wurde im Oktober von der EU für 2023 mit einem öffentlichen Defizit von 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und einer Inflationsrate von mehr als 17 Prozent gerechnet.
Über neue EU-Finanzhilfen für die Ukraine hatte eigentlich bereits beim EU-Gipfel im vergangenen Dezember entschieden werden sollen. Dort brauchte es allerdings einen Konsens und Orban verhinderte den Beschluss mit einem Veto. Er hatte zuvor mehrfach die Sinnhaftigkeit der Pläne infrage gestellt und in diesem Zusammenhang auch darauf verwiesen, dass die EU aus seiner Sicht zu Unrecht für sein Land vorgesehene Gelder aus dem Gemeinschaftshaushalt eingefroren hat. Für die Ukraine sind EU-Finanzhilfen in Höhe von 50 Milliarden Euro für die vier Jahre von 2024 bis 2027 vorgesehen.
Um den Streit mit Orban zu lösen, wurde für Donnerstag der Sondergipfel angesetzt. Sollte dabei keine Lösung mit Ungarn gefunden werden, wollen die anderen EU-Staaten im 26er-Kreis - also ohne Ungarn - handeln. Um Orban zum Einlenken zu bringen, wird auch darüber nachgedacht, Ungarn einen Beitragsrabatt zuzugestehen. Solche Sonderregelungen wurden in der Vergangenheit bereits mehrfach gewährt - auch zugunsten von Ländern wie Deutschland.
Eine Sprecherin von EU-Ratspräsident Charles Michel teilte mit, bei der Analyse zur Wirtschaftslage handele es sich lediglich um eine Hintergrundinformation, die nichts mit den laufenden Verhandlungen vor dem Gipfel zu tun habe. Es gebe keinen konkreten Plan zum Umgang mit Ungarn im Fall eines Scheiterns des Gipfels. Ziel sei es weiterhin, einen für alle 27 EU-Mitgliedstaaten akzeptablen Kompromiss zu finden.
Diplomaten verwiesen zudem darauf, dass es letztlich kaum eine Handhabe geben dürfte, Ungarn überhaupt keine EU-Mittel mehr zu überweisen. Wenn müsse man Ungarn demnach drohen, das bereits laufende Artikel-7-Verfahren wegen mutmaßlicher Rechtsstaatsdefizite weiter voranzutreiben. Mit diesem könnten Ungarn theoretisch sogar die Stimmrechte bei EU-Entscheidungen entzogen werden.
© dpa-infocom, dpa:240129-99-796526/2