„Emilia Pérez“ von Jacques Audiard: schräg und fantastisch | FLZ.de

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 28.11.2024 07:02

„Emilia Pérez“ von Jacques Audiard: schräg und fantastisch

Karla Sofía Gascon, Zoe Saldana und Selena Gomez in Cannes. (Foto: Scott A Garfitt/Invision/AP/dpa)
Karla Sofía Gascon, Zoe Saldana und Selena Gomez in Cannes. (Foto: Scott A Garfitt/Invision/AP/dpa)
Karla Sofía Gascon, Zoe Saldana und Selena Gomez in Cannes. (Foto: Scott A Garfitt/Invision/AP/dpa)

Dieser Film sorgte bei seiner Premiere in Cannes für Aufsehen - viele liebten ihn, manche waren auch irritiert. Denn „Emilia Pérez“ von Starregisseur Jacques Audiard ist eine ganz und gar unkonventionelle Mischung von Genres. Der Film erzählt eine Geschichte, von der man beim Lesen eigentlich nicht glauben kann, dass sie funktioniert - beim Schauen wird man eines Besseren belehrt.

In „Emilia Pérez“ thematisiert Altmeister Audiard vor dem Hintergrund mexikanischer Drogenkriege die Themen Geschlechterangleichung und Identität. Ebenso ungewöhnlich wie die Geschichte ist die Form, die er gewählt hat. Thriller, Musikdrama, burleske Komödie, Telenovela, Melodrama: „Emilia Pérez“ ist ein Mix aus Genres und Stilen. 

Zum Cast gehören neben Popstar Selena Gomez die spanische Schauspielerin Karla Sofía Gascón, sie hat in der Vergangenheit schon öfter über ihre Transidentität gesprochen. Sie ist in der Hauptrolle zu sehen. Zoë Saldaña verkörpert die Anwältin Rita.

Frankreichs Kandidat für den Oscar

Rita arbeitet als hoch qualifizierte, aber unterforderte Anwältin in einer Kanzlei in Mexiko-Stadt. Sie träumt von einem gut bezahlten Job, indem sie für Gerechtigkeit kämpft. Doch stattdessen wird sie von den männlichen Führungskräften ausgebeutet, die eher Kriminelle reinwaschen. Eines Tages erhält sie einen Anruf von Manitas del Monte (Gascón), einem der gefürchtetsten Kartellbosse Mexikos. Er will, dass Rita ihm hilft, seine Geschlechtsangleichung zur Frau zu organisieren und ein neues Leben zu beginnen.

Auf dem Festival in Cannes wurde der Film mit dem Preis der Jury gewürdigt, das Schauspielerinnenensemble erhielt den Darstellerpreis. „Emilia Pérez“ ist außerdem Frankreichs Kandidat im Rennen um den „Auslands-Oscar“.

Emilia Pérez alias Manitas

Für viel Geld soll Rita Manitas helfen, einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen und seine Frau Jessie (Gomez) und seine beiden Kinder in die Schweiz an einen sicheren Ort zu bringen. Alles muss im Geheimen passieren.

Vier Jahre später sitzt Rita als erfolgreiche Anwältin in einem Restaurant in London. An ihrem Tisch Kollegen und Freunde und eine gewisse Emilia Pérez, mit der sie ins Gespräch kommt. Nur langsam erkennt sie in ihrer Tischnachbarin den früheren Manitas. Ihre Begegnung ist kein Zufall. 

Emilia kann die Trennung von ihren Kindern nicht überwinden. Sie will, dass Rita die Rückkehr ihrer Familie nach Mexiko organisiert. Als Manitas' Cousine will sie Jessie und die beiden Kinder in ihrem Haus willkommen heißen. Doch Emilias Vergangenheit ist eine Geschichte, die ihren eigenen Regeln gehorcht und sich mit aller Gewalt rächen wird.

Spiel mit den Grenzen des Wahrscheinlichen

Die Metamorphose von Emilia Pérez hört nicht mit der körperlichen Geschlechtsangleichung auf. Emilia hat eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet, um Opfern gesellschaftlicher Gewalt und Angehörigen vermisster Menschen zu helfen, von denen einige Opfer von Manitas waren. Aus dem gefährlichen Mafiaboss mit den Metallzähnen wird eine Mutter Teresa. 

Audiard spielt mit den Grenzen der Glaubwürdigkeit, dabei schafft er die Gratwanderung dank toller Musicalnummern glänzend. Auf die unkonventionelle Geschichte ist er durch die Lektüre von „Écoute“ des Autors Boris Razon gekommen. Das Buch handelt von der Suche nach Identität in einer hyperüberwachten digitalen Gesellschaft und einem Polizisten, der in einem Abhörwagen seinen Dienst verrichtet.

Mix aus Genres und Stilen

Der Fachzeitschrift „Première“ sagte Audiard über seinen grenzüberschreitenden Film: Da es um Transidentität geht, habe er einen Film gewollt, der selbst transgender sei. Genreübergreifend ist auch die Musik, die den Thriller mit Reggae, Dance-Pop und mexikanischer Volksmusik aufmischt. 

Erstaunlich ist an dem Film viel. Auch dass Audiard ihn auf Spanisch und bei Paris in Bry-sur-Marne gedreht hat. Nur wenige Szenen wurden in Mexiko aufgenommen. Audiard und sein Team reisten mehrmals nach Mexiko, um Drehorte auszukundschaften, doch die Realität vor Ort sei zu heftig gewesen, erklärte er in dem „Première“-Interview: Er habe eine gewisse Distanz zu den Themen gebraucht.

Beeindruckendes Casting

Audiard hat die Rollen mit einem weiblichen Ensemble besetzt, das hervorragend funktioniert. Gascón hat sich durch zahlreiche Telenovelas einen Namen gemacht. Für den Film bestand sie darauf, sowohl den Kartellboss als auch Emilia zu spielen, eine Glanzleistung. Eine der schönsten Szenen im Film ist die, in der sie ihren Sohn zu Bett bringt und er ihren Geruch wiedererkennt.

Zaldana wiederum ist bekannt aus Blockbustern wie „Avatar“ und „Guardians of the Galaxy“. Popstar und Schauspielerin Gomez hat als Manitas‘ Frau Jessie eine erotisch aufgeladene Szene, die nach der Premiere nicht nur auf der Pressekonferenz Gesprächsthema war. Adriana Paz verkörpert eine Frau, in die sich Emilia verliebt. Vor allem Gascón und Saldaña werden Chancen bei den Oscars eingeräumt. 

Neuer Meilenstein in Audiards Karriere

Der Filmemacher Audiard ist bekannt für Ungewöhnliches und Skurriles. In dem Gefängnisfilm „Ein Prophet“ wird ein junger Waisenjunge maghrebinischer Herkunft mit Hilfe der korsischen Mafia zum einflussreichsten Kriminellen. In „Der Geschmack von Rost und Knochen“ verliebt sich ein Boxer in eine Schwertwal-Trainerin, die bei einem Arbeitsunfall beide Unterschenkel verliert.

Mit „Emilia Pérez“ hat er seinen unkonventionellsten Film gedreht, der ebenso schräg wie unterhaltsam ist, ebenso fantastisch wie fantasievoll.

© dpa-infocom, dpa:241128-930-301569/1


Von dpa
north