Schwere Zerstörungen, Leid und Verzweiflung: Beim schlimmsten Erdbeben, das Marokko seit Jahrzehnten erschüttert hat, sind mehrere Tausend Menschen gestorben. Hinzu kommen Verletzte und Hunderte Vermisste. Wie das marokkanische Innenministerium am Sonntagnachmittag mitteilte, steig die Zahl der bestätigten Toten auf 2122, mindestens 2421 Menschen wurden verletzt. Rettungs- und Bergungskräfte suchen in den Unglücksgebieten weiter nach Überlebenden. Die Helfer kommen aber in den teils abgelegenen Bergregionen nur mit Mühe voran.
Außerdem bestand weiter die Gefahr von Nachbeben, wodurch beschädigte Gebäude vollends einstürzen könnten. Das Beben der Stärke 6,8 hatte Marokko in der Nacht zu Samstag erschüttert. In der Bevölkerung brach Panik aus. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind mehr als 300.000 Menschen in Marrakesch und umliegenden Gebieten von dem Unglück betroffen. Das ganze Ausmaß der Katastrophe war auch am Sonntag noch nicht abzusehen, es wurde befürchtet, dass die Zahl der Opfer weiter steigt. König Mohammed VI. ordnete eine dreitägige Staatstrauer an.
Bei der Suche nach Verschütteten in Folge eines Erdbebens sprechen Experten in etwa von einem Zeitfenster von 72 Stunden. Dies gilt als Richtwert, die ein Mensch längstens ohne Wasser auskommen kann. Das Beben ereignete sich am Freitagabend um 23.11 Uhr Ortszeit. Es sei in einem Umkreis von 400 Kilometern zu spüren gewesen, sagte Nasser Jabour, Leiter einer Abteilung des Nationalen Instituts für Geophysik, der marokkanischen Nachrichtenagentur MAP. Mehrere Sekunden lang bebte die Erde. Nach Angaben der US-Erdbebenwarte USGS ereignete sich das Beben in einer Tiefe von 18,5 Kilometern.
Das Epizentrum lag gut 70 Kilometer südwestlich von Marrakesch im Atlasgebirge. Dort liegen Ortschaften entlang steiler und kurvenreicher Serpentinen. Da Erdbeben in Nordafrika relativ selten auftreten, sind Gebäude nach Einschätzung von Experten nicht robust genug gebaut, um solchen starken Erschütterungen standzuhalten.
Menschen in der Region berichteten dpa-Reportern am Sonntag, allein in dem Dorf Moulay Brahim, 50 Kilometer südlich von Marrakesch, sei die Hälfte der 84 Einwohner ums Leben gekommen. Ein kleines Bergdorf in der Provinz Chichaoua wurde nahezu vollständig zerstört, wie der staatliche Sender TV 2M berichtete. Es wurden Drohnen eingesetzt, um die Einsatzkräften bei der Suche nach Leichen zu unterstützen.
Die meisten Menschen in den vom Beben betroffenen Gebieten verbrachten auch die Nacht zum Sonntag im Freien. Mehrere Nachbeben erschütterten das Land seitdem. Ein stärkeres Beben gab es am Sonntagmorgen gegen 9.00 Uhr Ortszeit, nach Angaben der US-Erdbebenwarte USGS hatte es eine Stärke von 3,9. Das Epizentrum des Nachbebens lag laut Hespress etwa 80 Kilometer südwestlich von Marrakesch, ähnlich wie das erste Beben.
Aus aller Welt trafen Beileidsbekundungen ein. Auch die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union boten in einem Brief an den König ihre Hilfe an und drückten ihre Anteilnahme aus. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es am Sonntagmittag, es lägen keine Kenntnisse darüber vor, ob sich auch Deutsche unter den Opfern befänden. Die deutsche Botschaft in Rabat richtete eine Notrufnummer für betroffene Deutsche ein.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb auf der Plattform X (früher Twitter): „Wir trauern gemeinsam mit den Menschen in Marokko um die Opfer des furchtbaren Erdbebens. Unsere Gedanken sind bei ihnen und all denen, die in diesen Stunden nach Verschütteten suchen und um das Leben der vielen Verletzten kämpfen.“ Auch Bundeskanzler Olaf Scholz drückte sein Mitgefühl aus. „Das sind schlimme Nachrichten aus Marokko“, erklärte der SPD-Politiker auf X. „In diesen schweren Stunden sind unsere Gedanken bei den Opfern des verheerenden Erdbebens. Unser Mitgefühl gilt allen Betroffenen dieser Naturkatastrophe.“
Eine Spezialeinheit des spanischen Militärs mit Suchhunden flog am Sonntag nach Marokko. Mitglieder der Feuerwehr ohne Grenzen aus Spanien und weitere Berufsfeuerwehren waren ebenfalls unterwegs. Das Golf-Emirat Katar habe ein Rettungs- und Suchteam geschickt, berichtete die katarische Nachrichtenagentur QNA. Auch aus Tunesien machte sich bereits am Samstagabend ein Hilfsteam auf den Weg.
Auch in Deutschland und anderen Ländern standen Hilfskräfte einsatzbereit, sie rechneten jedoch am Sonntag vorerst nicht mehr mit einem Einsatz. „Es gab bisher kein Hilfeersuchen von Marokko“, sagte ein Sprecher der Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany und des Bundesverbands Rettungshunde. „Wir fahren jetzt alles zurück, räumen unser Lager wieder und packen unsere Rucksäcke aus.“ Auch das Technische Hilfswerk (THW) schickte seine für einen möglichen Rettungseinsatz in Marokko nahe dem Flughafen Köln/Bonn bereits versammelten Helfer vorerst wieder nach Hause. Das Team bleibe aber einsatzbereit, hieß es.
Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften kündigte in Genf an, die Rettungskräfte des Roten Halbmonds mit einer Million Schweizer Franken (eine Million Euro) zu unterstützen. Mit dem Geld der Dachgesellschaft sollen die marokkanischen Helfer wichtige Vorräte vor Ort kaufen. „Die Herausforderungen sind riesig“, sagte die IFRC-Krisenmanagerin Caroline Holt. Schweres Bergungsgerät in entlegene Erdbebengebiete zu bringen und Schwerverletzten rasch zu helfen, sei derzeit das Wichtigste.
Wegen der schweren Folgen der Katastrophe rückten auch diplomatische Spannungen etwas in den Hintergrund: Algerien kündigte an, Rettungsteams in das Nachbarland zu senden und einen Notfallplan anzubieten. Algerien und Marokko unterhalten seit August 2021 keine diplomatischen Beziehungen mehr. Grund seien „feindliche Aktionen von Rabat“, hieß es damals seitens der algerischen Regierung. In dem Streit ging es um Gebiete in der Westsahara. Algerien hatte in dem Zusammenhang den Luftraum für alle marokkanischen Flugzeuge gesperrt. Am Samstag hatte Algerien bereits angekündigt, den Luftraum für Flüge mit Verwundeten und Verletzten und zum Transport humanitärer Hilfe zum Nachbarland wieder zu öffnen.
Das nordwestafrikanische Land hat etwa 37 Millionen Einwohner und ist circa 446.000 Quadratkilometer groß. Es liegt auf der sogenannten Afrikanischen Platte, weltweit eine der größten Kontinentalplatten. Beim Erdbeben haben sich dem Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) zufolge Schollen der Afrikanischen und der Eurasischen Platte, die nördlich davon liegt, ruckartig gegeneinander bewegt.
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