Ob bei der WM oder zuletzt bei der Tour de France - für die deutschen Radsport-Erfolge sind fast ausschließlich die Frauen zuständig. Vorbei sind die Zeiten, als Tony Martin reihenweise WM-Medaillen einfuhr oder Sprinter wie Marcel Kittel oder André Greipel für Siege am Fließband sorgte.
„Ich weiß nicht, was die Männer machen. Wir konzentrieren uns auf uns“, scherzte Liane Lippert, die gut drei Wochen nach ihrem Etappensieg bei der Tour am Sonntag zum Abschluss der Rad-WM in Glasgow im Straßenrennen über 154,1 Kilometer den großen Coup anpeilt.
Es wäre die Fortsetzung einer jungen Erfolgsgeschichte. Lippert und Nationalmannschaftskollegin Ricarda Bauernfeind feierten bei der zweiten Auflage der neu ins Leben gerufenen Frauen-Tour jeweils einen Etappensieg, während die Männer zuvor zum zweiten Mal in Serie leer ausgegangen waren. Dazu sorgte die erst 20 Jahre alte Antonia Niedermaier mit dem Gewinn der Königsetappe beim Giro d'Italia Donne für Furore, am Donnerstag ließ sie auch gleich noch den WM-Titel im Zeitfahren der U23-Klasse folgen.
„Der Frauen-Radsport erlebt gerade eine gute Zeit. Das zeigt, dass man mit uns rechnen kann“, sagt Bauernfeind und Lippert fügt hinzu: „Es ist ein Boom, nicht nur für Ricarda und mich. Es ist gut, dass eine neue Generation heranwächst.“
Es ist eine Momentaufnahme, die sich im Bahnradsport schon seit einigen Jahren verfestigt hat. Die achtmaligen Weltmeisterinnen Lea Sophie Friedrich und Emma Hinze dominieren die Sprint-Szene, die Männer fahren dagegen hinterher. In Glasgow gab es nicht eine Medaille.
Der neue Straßen-Bundestrainer Greipel sieht den deutschen Männer-Radsport nicht so schlecht aufgestellt und verweist auf die guten Leistungen bei der Tour. Er sieht eher die Probleme im Nachwuchsbereich. Nach dem Straßenrennen, als Altmeister John Degenkolb als bester Deutscher 16. geworden war, sprach er allerdings von einem „ehrlichen Ergebnis“.
Bei dem Ausscheidungsfahren waren am Ende nur noch die Stars der Branche von Weltmeister Mathieu van der Poel (Niederlande) über Alleskönner Wout van Aert (Belgien) bis hin zu Superstar Tadej Pogacar (Slowenien) übrig geblieben.
Mit einem ähnlichen Szenario rechnet auch Lippert, die dann aber bei der Titelvergabe mitmischen will. Bauernfeind spricht ihr Mut zu: „Die Strecke ist perfekt für Liane. Die kurzen Anstiege sind genau das, was sie lieben wird und was sie kann.“ Lippert, die im Movistar-Team die Nachfolge der großen Annemiek van Vleuten (Niederlande) antreten soll, hat ohnehin noch eine Rechnung offen. Im vergangenen Jahr schrammte sie bei der WM in Australien als Vierte an einer Medaille vorbei, weil sich die Spitzengruppe in taktische Spielchen verfing und eingeholt wurde. „Ich habe meine Lektion daraus gelernt, wie ich es in Zukunft machen werde“, sagt die 25-Jährige.
Und dann ist da noch Niedermaier, gerade einmal 20 Jahre jung. Kaum eine klettert die Berge so schnell hoch wie die Rosenheimerin, die nebenbei auch noch ihre Karriere im Skibergsteigen forciert, wie die Abiturientin betont: „Das werde ich weitermachen. Ziel sind die Olympischen Winterspiele 2026.“ Dafür bleibt also auch noch Zeit.
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