Ihren Einstand in der Moderne hat die Elektromobilität mit einem flotten Roadster gegeben. Doch im Jahr 16 nach dem ersten Tesla erfasst die Elektromobilität jetzt so langsam auch die rechte Spur: Denn nachdem immer mehr Pkw-Hersteller auf den Batteriebetrieb umschwenken, ziehen nun die schweren Jungs nach und auch der Lastwagen rollt an die Ladesäule.
Zum Pionier will dabei einmal mehr Mercedes werden, wo zum Jahresende als erster elektrischer Fernlaster der eActros600 startet. Allerdings hat der Fortschritt wie auch beim E-Auto seinen Preis: Das Schwergewicht unter Strom kostet etwa 2,5 Mal so viel wie sein Diesel-Pendant.
Um eine Fuhre zu bewegen, die schnell mal 40 Tonnen und auch mehr wiegen darf, denken die Lastwagenbauer in Dimensionen, bei denen Pkw-Fahrer nur neidvoll staunen können: Die beiden Motoren, die über ein Viergang-Getriebe an der Hinterachse angeschlagen sind, leisten zusammen 600 kW/816 PS und damit mehr als in den meisten Supersportwagen.
Und wo die Pkw-Entwickler mit Batteriegrößen von 100 kWh prahlen, hängen hier drei Blöcke von jeweils 207 kWh im Rahmen - sodass am Ende rund 600 kWh nutzbare Energie zur Verfügung stehen, mit denen ein Actros in besten Fall 500 Kilometer fahren kann.
Das ist zwar imposant, aber selbst das reicht nicht für eine Schicht am Steuer, geschweige denn für einen Einsatz rund um die Uhr, den es für einen rentablen Betrieb oft braucht. Deshalb wird auch beim Laden nicht gekleckert, sondern geklotzt: Schon heute lädt der Actros mit 400 kW und damit schneller als die allermeisten Pkw.
Und sobald die Netzbetreiber endlich die ersten Säulen aufstellen, rüstet Daimler den Truck auch fürs Megawatt-Laden nach. Dann reichen 30 Minuten für den Hub von 20 auf 80 Prozent. Aber schon jetzt fließt in der Zwangspause, die ein Lkw-Fahrer nach 4,5 Stunden Lenkzeit machen muss, so viel Strom, dass er über den Rest seiner Schicht kommt.
Ja, die technischen Daten sind je nach Perspektive faszinierend oder furchteinflößend - genau wie das Fahrzeug selbst, wenn es groß und mächtig wie die Eiger-Nordwand vor einem aufragt. Aber wer erst einmal die Leiter hinauf geklettert ist wie auf einen Hochsitz im Wald, sich dann in den luftgefederten Sessel fallen lässt und sich mit dem Lenkrad anfreundet, das groß wie eine Familienpizza waagerecht vor dem Bauch liegt, der erlebt gleich die nächste Überraschung: Trotz seiner Größe und seines Gewichts lässt sich der Koloss fahren wie ein Kleinwagen.
Viel mehr als den kleinen Finger und den großen Zeh braucht es nicht. Selbst an Steigungen kommt der Sattelzug mühelos in Fahrt, die Autobahnauffahrt ist ein Kinderspiel und Passstraßen verlieren ihren Schrecken. Und wo es früher gedröhnt und gewackelt hat wie im Maschinenraum eines Kraftwerks bei einem fernen Erdbeben, herrscht jetzt gespenstische Ruhe. Und selbst eine Münze würde wohl auf dem Armaturenbrett stehen bleiben.
Nur muss man in Kurven etwas weiter ausholen und immer wieder auf die Monitore der digitalen Außenspiegel schauen, damit man nicht ringsum alles abräumt.
Umstellen muss sich der E-Fahrer auch beim Bremsen: Während Trucker den Hebel am Lenkrad von der Motorbremse, dem sogenannten Retarder, gewohnt sind, staunen Autofahrer nicht schlecht, wie viel Verzögerung die zum Generator umgepolten E-Motoren ermöglichen. Und während der Laster tatsächlich bis fast zum Stillstand bremst (und dabei viel Geld für Verschleißteile wie Bremsscheiben spart), geht der Akkustand tapfer wieder in die Höhe. Je nach Topographie und Tonnagen kann man so schnell mal 50, 100 Kilometer einsammeln.
Er ist nicht nur sauber, sondern er fährt auch noch besser und bietet obendrein spürbar mehr Komfort in der Kabine - im Grunde ist der elektrische Actros der viel bessere Fernlaster. Und glaubt man der Mercedes-Marktforschung, kommen zumindest zwei Drittel aller Kunden auch mit den 500 Kilometern Reichweite durch den Tag. Doch wie so oft hat die Elektromobilität auch beim Lastwagen einen Haken - den Preis. Denn der eActros kostet rund 2,5 Mal so viel wie ein Diesel und startet deshalb bei ganz grob 250.000 Euro.
Und auch wenn der Staat den Stromern die Lkw-Maut erlässt und beim Ausbau privater Ladestationen unterstützt, gibt es für das Fahrzeug selbst keine Subventionen mehr. Aber anders als ein Pkw ist ein Lastwagen nicht auf bestenfalls 300.000, sondern auf mindestens 1,2 Millionen Kilometer ausgelegt und hat deshalb viermal mehr Zeit, sich über die niedrigeren Betriebskosten zu amortisieren. Vom besseren Gewissen und den angenehmeren Arbeitsbedingungen ganz zu schweigen.
© dpa-infocom, dpa:240819-930-207563/1