Mitten im Interview platzten die Emotionen aus der sonst so coolen Lena Dürr heraus. „Ich muss kurz weinen“, sagte die deutsche Skirennfahrerin und drehte sich um.
In den Armen ihrer zu diesem Zeitpunkt bereits weinenden Teamkolleginnen realisierte die 31 Jahre alte Münchnerin ihre kleine Heldentat. Bronze im Slalom. Bei einer Weltmeisterschaft. Der größte Erfolg ihrer Karriere. Dann weinte auch Dürr. „Ich bin so stolz und froh“, sagte sie später und pustete kräftig durch.
Ihre Trainer rollten schon vor Freude durch den Schnee von Méribel, da blickte Dürr noch versteinert auf die Anzeigentafel. Erst als der Stadionsprecher ihren Erfolg ins Mikrofon brüllte, jubelte die Technik-Spezialistin. Eine Erlösung für das ganze Team.
„Ich saß dort und dachte: Scheiße, jetzt wird sie wieder Vierte. Aber manchmal ist der liebe Gott ein deutscher Rennfahrer“, sagte Alpinchef Wolfgang Maier. Nach Alexander Schmids Gold im Parallelrennen war es für den Deutschen Skiverband (DSV) die zweite Medaille bei dieser WM.
Dürr und der vierte Platz: Zwischenzeitlich kamen Erinnerungen an das Olympia-Drama aus dem Vorjahr hoch. Damals fehlten im Slalom von Peking sieben Hundertstelsekunden auf Bronze. „Wahrscheinlich ist das heute der Tag, an dem ich meine Hundertstel von Olympia zurückbekomme“, sagte Dürr. Sie lag am Ende genau zwei Hundertstel vor der viertplatzierten Mina Fürst Holtmann aus Norwegen.
Den Sieg sicherte sich überraschend die Kanadierin Laurence St-Germain, die in ihrer Karriere noch kein Weltcup-Rennen gewonnen hat. Topfavoritin Mikaela Shiffrin, die nach dem ersten Lauf noch in Führung gelegen hatte, holte Silber. Es ist die insgesamt 14. WM-Medaille der US-Amerikanerin und ihre Dritte beim Event im französischen Hochgebirge nach Gold im Riesenslalom und Silber im Super-G.
Für Dürr war es die erste Einzelmedaille bei einem Großereignis. Im Januar hatte sie erstmals einen Slalom-Weltcup gewonnen. Ein längst überfälliger Erfolg, der gleichermaßen Fluch und Segen war. Die Erwartungen stiegen, die Last auf den Schultern der zierlichen Athletin wurde größer. Auch wenn Dürr von Druck nichts wissen wollte, dürften die ständigen Fragen nach einer WM-Medaille nicht spurlos an ihr vorbeigegangen sein.
Dürr zeigte Nerven, fuhr zunächst zu zaghaft und leistete sich bereits im ersten Durchgang kleine Fehler. „Mit der Fahrerei bin ich nicht zufrieden“, sagte die Deutsche, die als Vierte und mit 0,92 Sekunden Rückstand auf Shiffrin ins Finale startete. „Aber wir werden das Blatt schon ein bisschen umdrehen können“, kündigte die Olympia-Vierte zuversichtlich an.
Es schien sich zunächst nicht zu wenden. Dürr erfüllte zwar ihre Pflichtaufgabe und übernahm auch im Finale die Führung. Doch erst rauschte St-Germain an ihr vorbei und auch die nach dem ersten Lauf zweitplatzierte Schweizerin Wendy Holdener lag deutlich in Führung - bis sie einfädelte.
Zehn Jahre nach ihrem ersten Weltcup-Sieg im Parallel-Event von Moskau krönte Dürr in Sichtweite des Mont Blanc ihre Karriere. Die Zeiten, in denen die Athletin vom SV Germering um Platz 20 herumdümpelte oder um ihren Kaderplatz zittern musste, sind vergessen. Dürr ist die erfolgreichste Skirennfahrerin, die der DSV gerade hat. Das realisierte allmählich auch sie selbst - und begann beim Weg aus der Interviewzone wieder zu weinen.
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