Krebserkrankungen, Autoimmunleiden, Herzprobleme: Bei vielen Erkrankungen spielt die Regulierung von Genen eine maßgebliche Rolle. Bekannt war seit den 1960er Jahren, dass die sogenannte Messenger-RNA (mRNA) den Bauplan für die Produktion von Proteinen in Zellen trägt. Dagegen galten die nicht kodierenden RNAs - also ohne solche Informationen - lange als genetischer Müll. Für einen Teil davon, die microRNAs, haben die diesjährigen Nobelpreisträger Victor Ambros und Gary Ruvkun dies widerlegt.
Die von ihnen entdeckten microRNAs (miRNA) bestimmen seit hunderten Millionen Jahren die Entwicklung von Organismen mit - und damit auch die Gesundheit von Menschen. Die Moleküle werden von Körperzellen gebildet und sollen dafür sorgen, dass bestimmte Proteine zur rechten Zeit im richtigen Körpergewebe in der benötigten Menge produziert werden.
Die Moleküle können aber auch an Krankheitsprozessen beteiligt sein, etwa an Tumoren, Herzinsuffizienz, angeborenem Hörverlust oder Sehstörungen. Mutationen in einem der für die miRNAs erforderlichen Proteine verursachen etwa das DICER1-Syndrom. Diese seltene Erkrankung führt zu Tumoren in verschiedenen Organen. Umgekehrt könnte man über miRNAs Krankheiten bekämpfen - entweder indem man miRNAs blockiert oder aber künstlich erzeugte Moleküle gezielt einsetzt.
Zwar gibt es rund 30 Jahre nach der Entdeckung beim Fadenwurm durch Ambros und Ruvkun noch keine zugelassenen medizinischen Verfahren. Aber etliche solche Nutzungen stehen inzwischen an der Schwelle zur medizinischen Anwendung: Studien an Menschen prüfen, ob sich microRNAs zur Diagnose von Krankheiten oder zur Therapie nutzen lassen.
Beispiel Herzinsuffizienz: Bei einer Herzschwäche ist das Herz zu schwach, um Blut durch den Körper zu pumpen. Daran sterben nach Angaben der Herzstiftung jährlich mehr als 40.000 Menschen in Deutschland. Ein in Hannover entwickelter Wirkstoff, CDR132L, bindet an die microRNA-132, die zur Vernarbung des Herzmuskels beiträgt - er soll so das Fortschreiten einer Herzinsuffizienz bremsen oder gar aufhalten.
„Unsere Arbeitsgruppe konnte erstmals 2008 in „Nature” zeigen, dass microRNA therapeutisch gegen Herzschwäche bei Mäusen eingesetzt werden können“, erklärte Thomas Thum von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). „Inzwischen haben wir die weltweit größte Studie in Phase 2 mit knapp 300 Patienten nach Myokardinfarkt und einem microRNA-Ansatz durchgeführt.“ Thum, Gründer des Start-ups Cardior, erwartet „eine neue Generation von miRNA-basierten Medikamenten“, die gegen viele Erkrankungen eingesetzt werden könnten. Auch gegen Nieren- und Lungenfibrose wird der Ansatz getestet.
Beispiel Krebs: „miRNA spielt eine sehr große Rolle bei Tumoren“, sagte Sven Diederichs vom Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung und der Universität Freiburg. miRNA könne Tumor-hemmende Gene unterdrücken, ihr Verlust könne Krebsgene aktivieren.
Da die Moleküle sehr charakteristisch für bestimmte Gewebetypen sind, lassen sie sich auch in der Diagnostik einsetzen, wie Diederichs erklärte. Bei Bauchspeicheldrüsen- und Lungenkrebs könnte dies nicht nur helfen, Tumore früh zu erkennen, sondern auch, etwaige Therapiefortschritte zu verfolgen. Therapien mit miRNAs würden derzeit geprüft - nicht nur an Bauchspeicheldrüsen-Tumoren, sondern auch bei Lungenkrebs und Hirntumoren.
Beispiel Alzheimer: miRNAs können die Früherkennung der häufigsten Demenzform verbessern, wie ein internationales Forschungsteam nach einer Studie an 800 Menschen im Fachblatt „Alzheimer's & Dementia“ schreibt. Man brauche nicht nur Therapien zur Behandlung von Alzheimer, sondern auch neue Ansätze, um die Erkrankung zu erkennen, bevor Symptome wie Gedächtnisstörungen auftreten, sagte André Fischer von der Uniklinik Göttingen. „Wir haben herausgefunden, dass dies über eine Messung von microRNAs im Blut möglich ist.“
Bereit für die klinische Routine sei das Verfahren noch nicht. Man arbeite an einem simplen Bluttest, der anhand eines Bluttropfens aus dem Finger mehrere miRNAs erkenne. Dieser Test könne in wenigen Jahren auf dem Markt sein, glaubt Fischer. Das könne aufwendige Verfahren wie die Analyse von Rückenmarksflüssigkeit und Hirnscans ergänzen.
Allerdings: Bislang gibt es keine zugelassenen Medikamente auf Basis von miRNAs. Bedenke man, dass man diese RNA-Varianten beim Menschen erst seit zwei Jahrzehnten kenne, sei die Forschung aber schon recht weit, sagte Diederichs. Dafür, dass der Ansatz medizinisches Potenzial hat, spricht auch eine wirtschaftliche Entwicklung: Erst im Mai übernahm der dänische Pharmakonzern Novo Nordisk - bekannt für die Abnahmespritze Wegovy - das von Thum gegründete Start-up Cardior für etwa eine Milliarde Euro.
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