Naturkatastrophen haben das Potenzial, die politische Stimmung zu kippen. Das zeigt sich derzeit auf eindrückliche Weise in den USA: Weniger als einen Monat vor der Präsidentenwahl, bei der Umfragen zufolge ein sehr knappes Rennen zu erwarten ist, steuert Hurrikan „Milton“ auf Florida zu – und US-Präsident Joe Biden verschiebt seine Reise nach Deutschland. Infolgedessen wird auch ein hochrangiges Ukraine-Treffen in Ramstein abgesagt. Es soll zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden.
„Milton“, derzeit ein Hurrikan der zweithöchsten Stufe 4, soll am Mittwochabend (Ortszeit) auf die Westküste Floridas treffen. Prognosen zufolge dürfte er sich zwar abschwächen, bevor er auf Land trifft, doch seine enorme Ausdehnung birgt erhebliches Zerstörungspotenzial. Im Großraum Tampa haben die Behörden Millionen Menschen dazu aufgefordert, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen.
Bilder von massiver Zerstörung, die zu erwartenden Stromausfälle für Hunderttausende Haushalte sowie mögliche Opfer lassen sich nur schlecht mit schönen Bildern eines Staatsbesuchs in Deutschland vereinen.
Die Regierungszentrale in Washington dürfte die kurzfristige Absage von Bidens Deutschland-Reise nicht leichtfertig entschieden haben: Immerhin hatten zu dem Treffen in Ramstein etwa 20 weitere Staats- und Regierungschefs zugesagt, darunter der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Doch klar ist: Biden wird nun in den USA gebraucht. Seine An- oder Abwesenheit könnte in dieser so heißen Phase des amerikanischen Wahlkampfes entscheidend sein.
Politiker müssen sich daran messen lassen, wie sie in Not- und Katastrophensituationen reagieren. Bei wohl keinem anderen Ereignis ist die Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit einer Regierung für die Menschen im Land so unmittelbar spürbar. Nicht nur die Menschen in Florida schauen genau hin, was die Regierung jetzt tut. Auch in anderen Landesteilen ist der Sturm und die Antwort der US-Regierung darauf das beherrschende Thema in den Nachrichten.
Gerade in jenen Bundesstaaten, in denen vor wenigen Tagen noch Sturm „Helene“ wütete, immense Zerstörung hinterließ und weit mehr als 200 Tote forderte, ist das Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung nach wie vor sehr präsent. Manche dieser Bundesstaaten, etwa Georgia und North Carolina, gehören zu den politisch besonders umkämpften Swing States. Dort können nur wenige Stimmen einen großen Unterschied machen.
In weniger als einem Monat, am 5. November, finden in den USA die Präsidentschaftswahlen statt. Demokrat Biden tritt zwar selbst nicht mehr an, dafür aber seine Stellvertreterin Kamala Harris. Sie wird wegen ihrer Rolle als Vize für die Politik der aktuellen Regierung mitverantwortlich gemacht. Harris' republikanischer Kontrahent Donald Trump kritisierte die beiden bereits nach „Helene“ dafür, nicht ausreichend reagiert zu haben.
Hinzu kommt nun auch noch eine weitere Dimension: Trump verbreitete bei Wahlkampfveranstaltungen in den vergangenen Tagen wiederholt die Verschwörungstheorie, Mittel der Katastrophenschutzbehörde würden an Migranten ohne legalen Status fließen. Damit wollten die Demokraten diese Menschen illegal zur Stimmabgabe für Harris bewegen. Auch andere Falschnachrichten machen die Runde, etwa die Behauptung, die Katastrophenschutzbehörde Fema verhindere in Florida Evakuierungen.
Fema-Chefin Deanne Criswell zeigte sich alarmiert. Zwar sei es nicht ungewöhnlich, dass Naturkatastrophen Gerüchte befeuerten, mit dem aktuellen Ausmaß habe sie aber nicht gerechnet: „Es ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe.“ Menschen in den betroffenen Gebieten würden durch die kursierende Gerüchte davon abgehalten, Hilfe zu suchen. Die Behörde sah sich gezwungen, eine Webseite einzurichten, auf der Falschnachrichten widerlegt werden.
Harris sprach mit Blick auf die Behauptungen Trumps von einem „Gipfel der Verantwortungslosigkeit“. Menschen verlören ihr Zuhause und Trump nutze die Situation für politische Spielchen. Biden bezeichnete die Verbreitung von Falschnachrichten als „unamerikanisch“. Menschen würden in die Irre geführt und in Panik versetzt.
Auch in Deutschland haben Politikerauftritte im Hochwasser schon Wahlen mitentschieden. Die letzte Bundestagswahl zum Beispiel: Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet wollte mit einem Besuch im Flutgebiet an der Ahr sein Image aufpolieren. Doch während Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach, konnte sich Laschet im Hintergrund ein feixendes Lachen über eine Bemerkung am Rande nicht verkneifen. „Das war blöd, dämlich“, sagte er später. Die Bilder machten unter dem Stichwort #Laschetlacht die Runde, kurz danach überholte SPD-Kandidat Olaf Scholz ihn in den Umfragen.
Dass Hochwasser das Potenzial haben, politische Stimmungen zu drehen, weiß man aber auch schon, seit Gerhard Schröder 2002 in Gummistiefeln durch die Elbeflut stapfte. Vor dem Hochwasser lag die SPD in Umfragen sieben Punkte hinter der Union. Dann stieg die Elbe, ließ Dämme brechen und riss Häuser weg. Während sein Herausforderer Edmund Stoiber auf Juist urlaubt, präsentierte sich Schröder als entschlossener Krisenmanager und wurde regelrecht ins Kanzleramt gespült. Seitdem ist in der Politik die Rede von „Gummistiefelmomenten“, in denen man alles gewinnen oder alles verlieren kann.
Gut möglich also, dass Biden in den kommenden Tagen wieder ins Katastrophengebiet reisen wird, statt mit den Staats- und Regierungschefs anderer Länder in Ramstein über weitere Unterstützung für die von Russland angegriffene Ukraine zu beraten. Auch für Harris und Trump dürfte es in den kommenden Tagen „Gummistiefelmomente“ geben.
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