Samuel und Anita wachsen als Kinder in ganz unterschiedlichen Gesellschaften, Ländern und Epochen auf und erleiden dennoch das gleiche traurige Schicksal. Beide werden Opfer von Gewalt, Krieg und Flucht. Ihre Familien werden auseinandergerissen und zerstört. Zurück bleiben zwei entwurzelte, verletzte Kinderseelen.
Die beiden Geschichten, die Isabel Allende in ihrem neuen Buch „Der Wind kennt meinen Namen“ erzählt, stehen stellvertretend für viele andere Kinder-Tragödien, die fortwährend jeden Tag geschehen. Man kann diesen Roman deshalb auch als eine Hommage an die vielen Flüchtlingskinder dieser Welt verstehen, die sich aller Widrigkeiten zum Trotz durchs Leben kämpfen. Denn Allende wäre ganz sicher nicht Allende, wenn es in ihrer Geschichte nicht auch Hoffnung, Optimismus und Zuversicht gäbe.
Samuel Adler wächst in den 1930er Jahren in einer jüdischen Familie in Wien auf. Als die NS-Judenverfolgungen auch in Österreich beginnen, wird der Junge mit einem Kindertransport nach England geschickt und überlebt. Seine Eltern sieht er nie wieder, sie sterben im Holocaust. Die kleine Anita Diaz ist fast blind. Sie lebt in El Salvador, bis die Gewalt dort so eskaliert, dass ihre Mutter mit ihr in die USA flieht. Dort werden beide voneinander getrennt. Anita kommt in ein Heim, ihre Mutter aber bleibt spurlos verschwunden.
Über weite Strecken des Romans scheinen die beiden Geschichten beziehungslos nebeneinander zu stehen. Nachdem Samuel in England angekommen ist und er dort Zugang zu der ihn tröstenden Welt der Musik findet, hören wir nämlich lange Zeit nichts mehr von ihm. Die Autorin verliert ihn fast aus dem Auge. Sie überspannt Raum und Zeit, wechselt von Europa in die USA und nach Zentralamerika, springt von den 1930ern in die 1980er Jahre und von dort in die unmittelbare Gegenwart. Und erst dann, also sehr spät, werden Samuels und Anitas Biografie zusammengeführt. Da ist Samuel schon ein sehr alter Mann und hat seine Fluchtgeschichte längst verdrängt.
Den meisten Raum nimmt Anitas Geschichte ein, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie nach den Worten der Autorin eine reale Person zur Vorlage hat. Dem kleinen Mädchen stellt sie eine Helferin zur Seite, Selena, eine Flüchtlingsaktivistin, die sich zum Ziel gesetzt hat, die verschwundene Mutter des kleinen Mädchens aufzuspüren. Die patente Latina ist nicht die einzige starke Frau in ihrem Roman. Da gibt es noch Leticia, mit der sich ebenfalls eine Fluchtgeschichte rund um das grauenhafte, in Deutschland kaum bekannte Massaker von El Mozote in El Salvador verbindet. Die rebellische Südstaatenschönheit Nadine schließlich ist ein überaus schillernder Gegenpart zu dem etwas langweiligen Samuel, ihrem Ehemann.
Wie Samuel bleiben auch die anderen Männer im Roman merkwürdig blass gemäß ihrer Rolle als bloße Komparsen, die Isabel Allende ihnen allenfalls zugedacht hat. Der Staranwalt, den Selena vor allem wegen ihrer erotischen Anziehungskraft für ihre Sache einzunehmen weiß, erscheint dabei ganz besonders stereotyp.
Der Roman weist viele Charakteristika auf, wie sie für die inzwischen 81 Jahre alte Bestsellerautorin („Das Geisterhaus“) typisch sind: Ein starkes überzeugendes Anliegen, hier der Einsatz für geflüchtete Kinder. Ein eingängiger, unterhaltsamer Schreibstil, der ihr die hohen Auflagen sichert - aber eben auch ein gewisser Hang zu klischeehaften, ein bisschen märchenhaften Plots, den ihr Kritiker vorwerfen. Alles in allem ein Buch, das ihre Fans lieben und die anderen wohl eher zur Seite legen werden.
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