Es gehört zu den Ritualen internationaler Gipfel, dass die Ergebnisse von den Teilnehmern am Ende als Erfolg verkauft werden - mögen sie noch so dünn sein. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beherrscht diese Disziplin besonders gut. In seiner kurzen Pressekonferenz zusammen mit Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf dem G20-Gipfel in Neu Delhi sagt er am Samstagabend zehn Mal „erfolgreich“ oder „Erfolg“. Als wenn er ihn herbeireden wollte.
Zuvor hat die Gruppe der führenden Wirtschaftsmächte etwas erreicht, was viele zwischenzeitlich schon fast abgeschrieben hatten: Eine Gipfelerklärung aller 20 Mitglieder. Darunter die USA, Deutschland, Japan oder Frankreich. Aber eben auch China und Russland.
Dass die Verhandlungen in die Nähe des Scheiterns gerieten, liegt an einer einzigen Frage: Wie beschreibt man das, was in der Ukraine passiert? Ob man nun Krieg „in“ der Ukraine oder „gegen“ die Ukraine sagt, ist schon von höchster Brisanz.
Mit solchen Feinheiten haben sich die Unterhändler der Staats- und Regierungschefs schon Wochen vor dem Gipfel befasst, und in der heißen Phase in Neu Delhi Tag und Nacht. Beim vorherigen Gipfel in Indonesien wurde der russische Angriffskrieg in der Erklärung noch von „den meisten“ Staaten klar verurteilt. Und Russland stimmte auf Druck Chinas zu, der für den daheimgebliebenen Kremlchef Wladimir Putin verhandelnde Außenminister Sergej Lawrow reiste am ersten Gipfeltag vorzeitig ab. Die G20 habe Russland mit Hilfe Chinas isoliert, jubelte der Westen.
Diesmal wollten China und Russland sich diese Blöße nicht mehr geben. Das Ergebnis ist ein Formelkompromiss - also eine Einigung, bei der der eigentliche Konflikt ungelöst bleibt und jeder behaupten kann, sich durchgesetzt zu haben. Es wird nur noch auf Resolutionen der Vereinten Nationen zur Verurteilung des Angriffskriegs verwiesen. Außerdem enthält die Erklärung ein Bekenntnis zur „territorialen Integrität“ aller Staaten, also ganz allgemein zur Unverletzbarkeit von Grenzen.
Aus westlicher Sicht kommt das einer Verurteilung der Invasion durch die Hintertür gleich. Aber auch Russland kann damit leben, weil es die besetzten Gebiete in der Ukraine als sein Staatsgebiet betrachtet. Und China kann damit seinen Anspruch auf Taiwan begründen, das es als Teil der Volksrepublik ansieht.
Jeder hat also seine eigene Lesart - und kann sie als Erfolg verkaufen. So wie Scholz, der beim Gipfel nach seinem Sturz beim Joggen noch immer eine Augenklappe trägt, feiert folglich auch die russische Seite die Erklärung. Für Außenminister Lawrow, der auch in Indien wieder Putin vertritt, gibt es keinen Grund mehr, den Gipfel vorzeitig zu verlassen. Er spricht von einer „ehrlichen und ausbalancierten“ Erklärung.
Am Sonntagmorgen steht er zusammen mit den Staats- und Regierungschefs an dem Ort, an dem der indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi 1948 kurz nach seiner Ermordung eingeäschert wurde, und legt einen Kranz nieder. Die Bilder von der Gedenkzeremonie sind der inoffizielle Ersatz für das traditionelle Familienfoto, das es seit dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht mehr gibt. Auch auf Bali gab es ein solches Bild bei einem Spaziergang durch einen Mangrovenwald. Da war Lawrow schon weg. Jetzt ist er zurück auf der Bildfläche im Kreis der G20. Auch das dürfte ihm Genugtuung sein.
Daran ändert auch nichts, dass die westlichen Staats- und Regierungschefs den russischen Delegationsleiter beim Gipfel weitgehend schneiden. Scholz sagt am Samstagabend offen, dass er ihm weder die Hand gegeben noch mit ihm geredet habe. Den Beitrag Lawrows in der ersten Arbeitssitzung beschreibt er mit den Worten: „Das waren die üblichen Erzählungen. Ich glaube, niemand im Raum hat's geglaubt.“
Trotzdem hat der G20-Gipfel Russland wieder ein Stück weit salonfähig gemacht. Das könnte beim nächsten Treffen in Brasilien so weitergehen. Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat bereits versichert, dass Putin in seinem Land sicher nicht verhaftet würde - eine indirekte Einladung an den russischen Präsidenten zu einem G20-Comeback.
Stellt sich die Frage, warum der Westen der Delhi-Erklärung zugestimmt hat. Als ein ganz konkreter Grund gelten die Bemühungen, Russland zu einer Rückkehr in das Abkommen für den Transport von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer zu drängen - oder zumindest dafür zu sorgen, dass Moskau für seine Nicht-Rückkehr nicht den Westen verantwortlich machen kann.
Die Vereinbarung hatte es ermöglicht, trotz des russischen Angriffskriegs fast 33 Millionen Tonnen Getreide und Lebensmittel über das Schwarze Meer zu exportieren. Selbst während des Krieges blieb die Ukraine damit der größte Weizenlieferant des für arme Länder so wichtigen Welternährungsprogramms.
Konfrontiert mit Kritik an den Zugeständnissen an Russland stellt ein westlicher Verhandlungsteilnehmer zudem die Frage, wie die Schlagzeilen gelautet hätten, wenn es in diesem Jahr erstmals keine gemeinsame G20-Erklärung gegeben hätte. „Das Ende der G20“, „Todesstoß für die G20“, „Schluss mit Kooperation“, gibt er selbst die Antwort. Der Kompromiss ermögliche es, die Plattform am Leben zu halten und zu verhindern, dass sie vollständig durch „Blöcke“ wie die westliche G7-Gruppe und die Gruppe der Brics-Staaten um China und Russland ersetzt werde.
Erwartet wird nun, dass 2024 in Brasilien auch wieder der chinesische Staatschef Xi Jinping anreist. Der hat sich in Neu Delhi wie Putin vertreten lassen - möglicherweise auch, weil er dem gerade zum bevölkerungsreichsten Land der Welt aufgestiegenen Rivalen Indien einen Strich durch die Rechnung machen wollte. Dessen Premierminister Narendra Modi wollte sich als Anführer des globalen Südens profilieren.
Gerade für Deutschland und die EU geht es derzeit geopolitisch um viel. Die Europäer wissen, dass sie im Kampf gegen den Klimawandel oder bei der Rohstoffversorgung auf Länder wie China, Indien und Brasilien angewiesen sind. Ganz zu schweigen von der Bedeutung, die diese Länder als Absatzmärkte spielen.
Verliererin des Gipfels ist die von Russland angegriffene Ukraine. Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde diesmal nicht per Video zugeschaltet. Anders als im vergangen Jahr, wo ihm auf Bali eine große Bühne geboten wurde, um den Abzug Russlands zu fordern. „Die G20 hat nichts, worauf sie stolz sein kann“, lautet die Gipfelbilanz des Sprechers des Außenministeriums in Kiew, Oleh Nikolenko.
So oder so: Am Kriegsgeschehen in der Ukraine ändern die Formulierungen in der Erklärung von Neu Delhi rein gar nichts. Wie dieser Krieg beendet werden kann, wurde auf dem G20-Gipfel nicht besprochen.
Kanzler Scholz wird das alles möglicherweise bald dem ukrainischen Präsidenten erklären müssen. Am kommenden Sonntag bricht er zur UN-Generaldebatte nach New York auf, an der Selenskyj wahrscheinlich ebenfalls teilnehmen wird.
© dpa-infocom, dpa:230910-99-138679/4