Świnoujście (dpa/tmn) - Direkt an der Grenze beginnt sie, die „Via Baltica“. Zwischen dem polnischen Świnoujście (Swinemünde) und dem ehemaligen Fischerdorf Kamminke auf Usedom mit der urigen Fischräucherei. Hier starten wir. Über Greifswald wollen wir gestärkt nach Rostock radeln.
Und natürlich stellen sich gleich, zu Beginn einer Pilgertour, ob zu Fuß wandernd oder eben im Fahrradsattel, große Fragen: Kann ein Teilabschnitt des Jakobswegs allein für spirituelle Erfahrungen sorgen? Wie passt der anhaltende Boom des Pilgerns damit zusammen, dass nach wie vor so viele Menschen aus der Kirche austreten?
Unterwegs sind wir auf der nördlichsten Ost-West-Verbindung des Jakobsweges in Deutschland. Der Name „Via Baltica“ rührt von seiner Funktion her. Das Teilstück, das bis nach Osnabrück in Niedersachsen führt, dient als eine Brücke des Pilgerpfades von den baltischen Ländern nach Santiago de Compostela in Spanien. Wichtig also ist die „Via Baltica“ für Pilger, die aus dem Nordosten kommen.
Aber warum pilgern eigentlich so viele Menschen, egal wo sie starten? Nach Angaben der amerikanischen katholischen Nachrichtenagentur CNA waren 2023 fast eine halbe Million Menschen aus aller Welt auf dem historischen Jakobsweg unterwegs, mehr waren es nie zuvor.
Einen Grund erleben wir, der in Vorpommern wohl genauso gilt wie auf der Zielgeraden in Galicien: die Nähe zur Natur. Der Weg führt durch einen dünn besiedelten Flecken Bundesrepublik. Usedom noch ist touristisch geprägt. Doch auf dem Wiesenweg direkt am Haff begegnet man je nach Saison kaum einer Menschenseele.
Nur zwei imposante Greifvögel kreisen über uns. Ein Eisvogel macht kurz im Schilf Halt. Froschquaken und Vogelgezwitscher erfüllen die Luft. Eigentlich wollten wir das Rad schieben, um den Ausblick zu genießen. Kurz kommt Zweifel auf, ob wir nicht doch hätten zu Fuß gehen sollen. Aber die Mückenschwärme treiben uns wieder in den Sattel.
„Erst ist es nur ein Baum, dann entdeckt man einen Pilz daran oder ein Insekt, das man noch nie gesehen hat.“ Man werde immer feinfühliger, sagt Pilgercoach Dajana Ostermann aus Hamburg, die schon drei Monate am Stück auf dem Jakobsweg gewandert ist.
Doch wo verläuft die Trennlinie zwischen Pilgern und Wandern, bei dem man schließlich auch tief in die Natur eintaucht? Kersten J. Koepcke, Beauftragter für Kirche und Tourismus im Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Mecklenburg sagt: Ist der Weg derart vorgezeichnet wie auf einem Pilgerpfad, gebe das den Menschen Sicherheit: „Da fällt es leichter offen zu sein für das, was einem am Weg begegnet, für Menschen und spirituelle Erfahrungen.“
Die „Via Baltica“ scheint, trotz teilweise lückenhafter Wegmarkierungen, dazu ideal. Auf dem Festland führt dieser Teil des Jakobswegs weiter durch landwirtschaftlich geprägtes Gebiet und kleine Ortschaften, viele mit mittelalterlichen Kirchen aus Findlingen und Backsteinen errichtet. Es geht durch Wälder, an baumhohen Hecken entlang, durch kilometerlange Alleen. Stundenlang begegnen wir in sanft hügeliger Landschaft zwar niemandem, neue Menschen kennenzulernen fällt flach. Aber das weite Land bietet den Gedanken viel Raum.
Ob man nun Mitglied einer Gemeinde ist, scheint untergeordnet. „Wir leben in einer Zeit der zunehmenden Individualisierung. Da ist die Institution Kirche nicht attraktiv“, räumt Koepcke ein. Unberührt davon sei die Frage nach dem Sinn des Lebens so aktuell wie eh und je. Wofür bin ich da? Wo will ich hin?
„Pilgern ist eine unverfängliche Art der Suche“, sagt Koepcke. Oft sind es Umbruchsituationen in denen sich Menschen auf den Weg machen. Mit Religion muss das nichts zu tun haben. Ein passendes Angebot macht Dajana Ostermann, sie nennt es konfessionsungebundenes Coaching. Dabei hört sie vor allem zu, leistet denen Gesellschaft, die nicht allein gehen wollen, und kümmert sich um die Unterkünfte.
Zu Beginn fragte sich Ostermann, „ob ich pilgern, die Gastfreundschaft annehmen darf, auch wenn ich nicht an Gott glaube“. Für Kersten Koepcke ist das kein Frevel. Menschen, die mit Kirche nichts am Hut hatten, seien oft sehr fromm wiedergekommen. „Was man mitbringen sollte, ist die Offenheit, sich auf den Weg einzulassen.“ Dann könne einen „der Heilige Geist anwehen“.
Oder man „fühlt sich mit dem Universum verbunden“, wie Dajana Ostermann es formuliert. Ob man nun nur einen längeren Abschnitt oder den ganzen Jakobsweg gehe, mache dabei keinen grundsätzlichen Unterschied. Ostermann sagt, beides habe „seine eigene Qualität“.
Sie hat die Erfahrung gemacht, dass einem vom Ende des ersten bis zum dritten Tag alles weh tut: „Am vierten Tag sind die Schmerzen weg. Der Kopf ist leer. Dann fangen wir an, unser Thema zu bearbeiten.“ Das Wahrnehmen der Fülle und das Verbundensein mit allem um sich herum werde mit der Zeit intensiver.
Weh getan hat mir auf dem Rad fast nichts, der Po etwas. Wie die Zwischenbilanz zu Fuß ausgefallen wäre, weiß ich nicht. Aber der vierte Tag ist anders. Obwohl zu Hause ein Arbeitsberg auf mich wartet, bin ich völlig entspannt, fühle mich frei.
Und würde gern weiterradeln - bis nach Rostock und noch weiter. Schließlich führt die „Via Baltica“ bis nach Osnabrück. Und man wäre ganz frei, auf dem anschließenden Teil des Weges nach Santiago de Compostela noch weiter zu pilgern.
Reiseziel: Der Abschnitt der „Via Baltica“ in Mecklenburg-Vorpommern beginnt zwischen Świnoujście (Swinemünde) und Kamminke auf der Insel Usedom und führt bis zur schleswig-holsteinischen Grenze nahe Lübeck. Die Distanz beträgt über 350 Kilometer. Die „Via Baltica“ in Norddeutschland ist eines der Teilstücke des Jakobswegnetzes.
Anreise: Mit der Bahn über Rostock und Stralsund nach Heringsdorf oder Swinemünde.
Unterkunft: Mit dem Pilgerausweis der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft können Pilgern gegen ein geringes Entgelt oder eine Spende in Pilgerherbergen übernachten. Mit ihm erhält man auch eine Pilgerurkunde. Die Zahl der Pilgerunterkünfte ist jedoch überschaubar. Daher ist es ratsam, den Schlafplatz einige Tage vorher anzufragen. Zwischen Greifswald und Rostock sind einige Gutshäuser und Schlösser zu Hotels umgebaut.
Weitere Auskünfte: bei der Evangelischen Kirche in Mecklenburg-Vorpommern und dem Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern.
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