Begleitet von Sorgen vor einer möglichen Ausweitung des russischen Angriffskriegs läuft in der südukrainischen Hafenstadt Mariupol die vorerst letzte Phase einer groß angelegten Evakuierungsaktion.
Mit internationaler Hilfe wurden am Samstag Zivilisten gerettet, die unter katastrophalen Bedingungen auf dem Gelände des Stahlwerks Azovstal eingeschlossen waren. Russlands Armee hatte dafür eine vorübergehende Feuerpause versprochen - griff in anderen Teilen der Südukraine aber offensichtlich weiter mit großer Härte an.
Kiew bereitete sich derweil auf einen Solidaritätsbesuch von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) am Sonntag vor. Auch Kanzler Olaf Scholz ist in die ukrainische Hauptstadt eingeladen - doch ob und wann er kommen will, ist weiter unklar.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Zerstörung von Kulturgütern in der Ukraine durch russische Truppen beklagt. In dem seit zweieinhalb Monaten dauernden Angriffskrieg seien 200 Kulturerbestätten getroffen worden, sagte Selenskyj in einer Videoansprache in Kiew. Als ein Beispiel nannte er den Raketentreffer auf das Museum des bedeutenden ukrainischen Dichters und Philosophen Hryhorij Skoworoda (1722-94) im Gebiet Charkiw in der Nacht zuvor.
„Leider kehrt das Böse zurück, wenn Menschen die Rechte anderer Menschen missachten, das Gesetz missachten und die Kultur zerstören“, sagte Selenskyj. Deshalb verteidige die Ukraine ihr Volk, ihre Städte und ihre Museen gegen Russland. Am Sonntag und Montag gedenke die Welt des Sieges über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg. Doch das russische Vorgehen zeige, „dass es unmöglich ist, das Böse ein für alle Mal zu besiegen“.
Die ukrainische Führung setzt auf eine Rückeroberung der von russischen Truppen besetzten Stadt Cherson im Süden des Landes. „Es wird keine Volksrepublik Cherson geben“, sagte Mychajlo Podoljak, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, im ukrainischen Radio. Das Gebiet werde vollständig befreit werden, was viele russische Soldaten das Leben kosten werde, sagte Podoljak am Samstag in Kiew.
Er reagierte damit auf Äußerungen Moskauer Politiker und der Besatzungsmacht, die Cherson für russisch erklären wollen. „Russland ist für immer hier!“, sagte der Generalsekretär der Kremlpartei Geeintes Russland, Andrej Turtschak, bei einem Besuch. Auch sollen in Cherson russische Pässe ausgegeben werden, der Rubel soll einziges Zahlungsmittel werden. Dies wäre eine Entwicklung wie in den 2014 begründeten Volksrepubliken der prorussischen Separatisten in Donezk und Luhansk in der Ostukraine.
Aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol sind offiziellen Angaben zufolge die letzten Frauen, Kinder und älteren Menschen evakuiert worden. „Dieser Teil der humanitären Operation in Mariupol ist abgeschlossen“, schrieb die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Samstag im Nachrichtendienst Telegram. Ob unter den verbliebenen Männern noch Zivilisten sind, ließ sie zunächst offen. Auf dem Werksgelände haben sich weiter die letzten verbliebenen ukrainischen Kämpfer verschanzt, die sich den russischen Truppen entgegen stellen.
Im Zuge der Evakuierung seien drei ukrainische Soldaten getötet und sechs verwundet worden, schrieb der Kommandeur der 36. Marineinfanteriebrigade, Serhij Wolynskyj, am Abend bei Facebook. Er sendete einen eindringlichen Hilferuf und schrieb, er könne nur noch auf ein Wunder hoffen. „Schmerz, Leiden, Hunger, Qualen, Tränen, Angst, Tod - alles ist echt!“, schrieb er.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte am Abend Verhandlungen über eine Evakuierung von Verwundeten, Medizinern sowie der verbliebenen Soldaten an. Moskau hat jedoch mehrfach angekündigt, die ukrainischen Kämpfer selbst im Falle einer Kapitulation in Gefangenschaft nehmen zu wollen.
Beobachter gehen davon aus, dass Moskau das Stahlwerk, in dem sich auch die letzten verbliebenen ukrainischen Kämpfer verschanzt haben, bald erobert haben will. So könnte der Kreml am 9. Mai - dem Jahrestag des sowjetischen Sieges über Hitler-Deutschland 1945 - offiziell die Einnahme von Mariupol feiern.
Befürchtet wird in der Ukraine auch, dass Russlands Präsident Wladimir Putin am kommenden Montag bei seiner Rede in Moskau eine Ausweitung der Kampfhandlungen anordnen könnte.
In einer anderen südukrainischen Region gingen Russlands Angriffe schon jetzt mit großer Härte weiter. Auf die Hafenstadt Odessa wurden ukrainischen Angaben zufolge mindestens vier russische Raketen abgefeuert. Örtliche Medien zeigten dicke schwarze Rauchwolken über dem Stadtgebiet. Berichten zufolge soll ein Militärflugplatz getroffen worden sein. Die Behörden machten zunächst keine Angaben zu möglichen Opfern. Von russischer Seite gab es am Nachmittag erst einmal keine Bestätigung.
Explosionen - teils von der Luftabwehr - wurden auch aus dem benachbarten Gebiet Mykolajiw, dem zentralukrainischen Poltawa und dem westukrainischen Chmelnyzkyj gemeldet. Bei einem Angriff auf das grenznahe nordostukrainische Gebiet Sumy sei bei einem Luftangriff mindestens ein Mensch verletzt worden.
Aus dem russischen Verteidigungsministerium hieß es am Abend, mit Langstreckenwaffen sei in Odessa Ausrüstung der ukrainischen Luftwaffe zerstört worden. In der ostukrainische Region Charkiw seien zudem Lager mit aus dem Westen gelieferten Waffen mit Raketen beschossen worden.
In den umkämpften ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk sind ukrainischen Angaben zufolge mindestens sechs Zivilisten getötet worden. Zwölf weitere Menschen seien verletzt worden, teilten die Gebietsverwaltungen am Samstag im Nachrichtendienst Telegram mit. Unter den Toten seien auch zwei Kinder, die im Dorf Prywillja bei Beschuss mit Mehrfachraketenwerfern des Typs „Grad“ (Hagel) getötet worden sein sollen. Infolge des vor rund zweieinhalb Monaten von Russland begonnenen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind UN-Angaben zufolge landesweit bereits mehr als 3300 Zivilisten getötet worden.
Auf ukrainische Einladung hin reist am Sonntag Bundestagspräsidentin Bärbel Bas nach Kiew. Sie könnte dort möglicherweise auch Präsident Wolodymyr Selenskyj treffen. Bas' Besuch fällt zusammen mit dem 77. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa. In einem Interview des SWR sagte die SPD-Politikerin: „Und natürlich ist es auch mein Wunsch, dass wir die Parallelen dieses Krieges von damals ins Heute ziehen, also dass Krieg nur Verlierer kennt und dass wir zu einer Waffenruhe kommen müssen und die Eskalation vermeiden.“
Zwischen Kiew und Berlin hatte es wochenlang Verstimmungen gegeben, weil ein Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine zwischenzeitlich nicht erwünscht war. Steinmeier und Selenskyj räumten die Irritationen in der vergangenen Woche in einem Telefonat aus.
US-Außenminister Antony Blinken hat Russlands Präsidenten Wladimir Putin mit Blick auf das Gedenken an das Kriegsende 1945 Geschichtsrevisionismus vorgeworfen. „Präsident Putin versucht, die Geschichte zu verdrehen, um seinen unprovozierten und brutalen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen“, erklärte Blinken. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und das ukrainische Volk „verteidigen tapfer ihr Land, ihre Demokratie und die rechtmäßige Zukunft der Ukraine“ in einem freien und friedlichen Europa.
Es gebe eine „heilige Pflicht“ gegenüber den im Zweiten Weltkrieg Gefallenen, so Blinken weiter. Das bedeute, „die Wahrheit über die Vergangenheit zu sagen und all jene zu unterstützen, die in unserer Zeit für die Freiheit eintreten“. Während der Krieg in Europa erneut wüte, gelte es, die Entschlossenheit verstärken, denjenigen zu widerstehen, die jetzt versuchten, die historische Erinnerung zu manipulieren.
Russlands Präsident Wladimir Putin wird den Krieg in der Ukraine nach Ansicht von CIA-Chef Bill Burns weiter vorantreiben. Putin sei in einer Verfassung, in der er nicht glaube, es sich leisten zu können, zu verlieren, zitierte die „Financial Times“ Burns am Samstag. Der CIA-Chef sprach in Washington auf einer Veranstaltung der Zeitung.
Nach Einschätzung von Burns ist Putin überzeugt, mit noch mehr Einsatz Fortschritte erzielen zu können. Burns sagte außerdem, dass die US-Geheimdienste keine praktischen Beweise dafür sähen, dass Russland einen Einsatz taktischer Atomwaffen plane. Dennoch dürfe man diese Möglichkeit nicht auf die leichte Schulter nehmen.
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