Gentechnisch veränderte Lebensmittel - bei diesem Gedanken ist vielen Menschen in Deutschland unwohl. Dennoch dürfte die EU-Kommission im Sommer vorschlagen, Regeln dazu zu lockern. Gerade wurde ein Gesetzentwurf bekannt, wonach neue Methoden unter bestimmten Umständen nicht mehr unter die strengen Gentechnik-Regularien fallen würden. Das könnte dazu führen, dass auf diese Weise veränderte Lebensmittel - womöglich dann auch ohne spezielle Kennzeichnung - den Weg auf den Markt finden.
Grundsätzlich hat die Manipulation von Nutzpflanzen Tradition. „Seit der neusteinzeitlichen Revolution vor rund 12.000 Jahren werden Pflanzen gezüchtet und genetisch so verändert, dass sie ertragreicher und landwirtschaftlich besser nutzbar sind“, schreibt die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Ins Genom der Pflanzen - also die Gesamtheit der Gene - wurde indirekt eingegriffen, indem etwa die ertragreichsten ausgewählt und wieder ausgesät wurden. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden dann Verfahren populärer, bei denen Samen radioaktiv bestrahlt wurden, wodurch Tausende zufällige Mutationen entstehen. Die Idee: Auch nützliche Veränderungen wie mehr Ertrag oder Resistenz könnten dabei sein. Dieses Vorgehen fällt in der EU nicht unter Gentechnikregeln. „Auch wenn die Methode brutal klingt, ist das klassische Zucht“, betont die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Carina Konrad.
Unter das EU-Gentechnikrecht fallen unter anderem Methoden, bei denen artfremde Gene in eine Pflanze eingebracht werden - etwa Gene aus einem Bakterium in Mais. Diese sogenannte Transgenese fällt unter die strengen Zulassungsregeln und muss deklariert werden. Auch für neue Verfahren wie die Genschere Crispr/Cas gelten diese Regeln. Dazu gehört ein Zulassungsverfahren mit Risikoprüfung, das in der Praxis mehrere Jahre dauert.
Die vor gut zehn Jahren entdeckte Genschere steuert gezielt Gene an, die für eine bestimmte Eigenschaft verantwortlich sind. Der Genstrang wird an einer bestimmten Stelle geschnitten und dann vom zelleigenen Reparatursystem wieder zusammengefügt. Dadurch entstehen Veränderungen im Erbgut, die auch auf natürliche Weise auftreten können.
Zwar lassen sich per Genschere auch artfremde Gene einbauen. Aber laut Entwurf der EU-Kommission sollen Crispr-editierte Organismen vom Gentechnikrecht dann ausgenommen werden, wenn die dadurch entstandenen Sorten auch durch Verfahren wie Kreuzung oder Auslese hätten entstehen können. Eine ähnliche Haltung hat auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Falls Crispr vom Gentechnikrecht ausgenommen würde, gäbe es weiterhin bestimmte Kontrollen: Für landwirtschaftliche Produkte gelten auch lebensmittelrechtliche Regelungen, wie Ralf Wilhelm vom bundeseigenen Julius Kühn-Institut (JKI) erläutert. Zudem seien mindestens drei Jahre Sortenprüfungen erforderlich, betont der Experte. Dabei werde etwa untersucht, welche Verbesserungen eine neue Sorte mitbringe.
Wären Crispr-Produkte rechtlich keine gentechnisch veränderten Organismen mehr, dürften sie ohne strenge Prüfung und Kennzeichnung auf den Markt gebracht werden. Befürworter argumentieren, derzeitige Regeln behinderten Innovation und Forschung in der EU. So lassen sich etwa in Deutschland Lebensmittel mit Gentechnik-Kennzeichnung so gut wie nicht verkaufen.
Sie fürchten, dass eine Vielzahl gentechnisch veränderter Pflanzen geschaffen, angebaut und letztlich den Verbrauchern unwissentlich angeboten werden könnte. So warnen Bio-Verbände: Sollte die Genschere nicht mehr unter die Gentechnikregulierung fallen, könnten sich Verbraucherinnen und Verbraucher nicht mehr bewusst für gentechnikfreie Lebensmittel entscheiden. Ähnlich sieht das der Verbraucherzentrale Bundesverband.
Zudem sind Kritiker der Ansicht, dass Risiken nicht zu 100 Prozent klar seien. Konkret wird etwa befürchtet, dass auch ungewollte Änderungen in Pflanzen auftreten könnten - diese etwa vermehrt Giftstoffe bilden.
Dies könne auch bei herkömmlicher Kreuzung geschehen, sagt Wilhelm. So sei Ende der 1960er Jahre in der konventionell gezüchteten Lenape-Kartoffel ein erhöhter Gehalt von in Kartoffeln natürlich vorkommenden giftigen Glykoalkaloiden aufgetreten, nachdem eine schädlingsresistentere Wildkartoffel eingekreuzt wurde. Die Sorte musste wieder vom Markt genommen werden.
Die Umweltorganisation Friends of the Earth Europe bemängelt zudem, dass Biotech-Konzerne viel Kontrolle über die Lebensmittelproduktion erlangen könnten.
Viele Forscher sehen enormes Potenzial: So besteht die Hoffnung, etwa eine Weizensorte zu entwickeln, die gegen die Pilzkrankheit Mehltau resistent ist. Aber auch stressresistente Maispflanzen oder Allergen-freie Erdnüsse sind denkbar. Befürworter erhoffen sich auch positive Effekte durch besonders widerstandfähige Pflanzen mit Blick auf Hunger und Klimakrise.
Derzeit seien weltweit mehr als 100 potenziell marktfähige Ansätze bekannt, bei denen Pflanzen mit der Genschere verändert wurden, so die Leopoldina. Diese Pflanzen würden Vorteile für eine pestizidarme und ressourcenschonende Landwirtschaft bieten. Als Beispiele genannt werden etwa Sojabohnen mit gesünderen Fettsäuren, länger lagerfähige Kartoffeln sowie pilzresistente Sorten von Wein und Kakao.
Die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO schreibt in einem aktuellen Bericht, dass Gentechnik effizientere und präzisere Verbesserungen ermögliche als viele frühere Züchtungsmethoden.
© dpa-infocom, dpa:230616-99-80720/2