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Mit Schwerbehinderung in die Politik

Katrin Gensecke (SPD) setzt sich als Landtagsabgeordnete besonders für Menschen mit Behinderungen ein. Sie leidet selbst an Multiple Sklerose. (Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)
Katrin Gensecke (SPD) setzt sich als Landtagsabgeordnete besonders für Menschen mit Behinderungen ein. Sie leidet selbst an Multiple Sklerose. (Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)
Katrin Gensecke (SPD) setzt sich als Landtagsabgeordnete besonders für Menschen mit Behinderungen ein. Sie leidet selbst an Multiple Sklerose. (Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)

Genau so sollte es eigentlich nicht sein. Ein wenig mühsam und dennoch erstaunlich flink steigt Katrin Gensecke die steile Treppe in dem alten Schulgebäude empor. Die Gemeinde hat etwas Neues daraus gemacht - aber ein Aufzug fehlt.

Auf dem Land ist der Weg zur Barrierefreiheit oft noch weit. Freundlich spricht die 50-Jährige das Thema gegenüber der Bürgermeisterin an, reagiert jedoch insgesamt gelassen. Es ist schließlich keine unbekannte Erfahrung für die Frau, die seit mehr als 25 Jahren an Multiple Sklerose erkrankt ist - und sich schon fast genau so lange für die Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzt.

An diesem warmen Tag im Juli schaut sich Katrin Gensecke in Nordgermersleben (Landkreis Börde) das neue Co-Working-Center an. In dem 700 Einwohner zählenden Dorf hat die Gemeinde Hohe Börde das alte Schulgebäude saniert und umgebaut. Nun können sich Menschen dort tageweise beruflich einmieten. Die Landtagsabgeordnete will wissen, wie das in ihrem Wahlkreis angenommen wird. „Wie schnell ist das Internet?“, ist die erste Frage, die Gensecke stellt, als sie die Räumlichkeiten betritt. Bürgermeisterin Steffi Trittel berichtet über den Glasfaserausbau. Angekommen bei den grünen Bürostühlen lächelt Gensecke. „Hier kann man sich ja wohlfühlen.“ Das müsse sich herumsprechen, am besten bis zu den Hochschulen nach Magdeburg. Nach einer Stunde Gespräch geht es aus dem ersten Stock die Treppen wieder runter. Schritt für Schritt.

Vor solchen Barrieren steht Katrin Gensecke seit Mitte der 90er Jahre. Sport, Geschichte und Deutsch studiert die gebürtige Erfurterin damals in Magdeburg, als sie durch einen schweren Sportunfall aus ihrem Alltag herausgerissen wird. Nach monatelanger Ungewissheit bekommt das Phantom einen Namen, wie sie sagt. Diagnose Multiple Sklerose (MS). „Das war der 5. Dezember 1997. Dieses Datum werde ich nie vergessen.“ MS ist eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die junge Frau beantragt einen Schwerbehindertenausweis, kann zu dieser Zeit kaum laufen. Rennrodeln, Geräteturnen, Tanzen - das ist auf einen Schlag vorbei.

Katrin Gensecke bricht das Studium ab und macht eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten. Später wird sie arbeitslos. Viele Bewerbungen schreibt sie, gibt ihre Behinderung an. Genommen wird sie nirgends. „Das war Diskriminierung pur.“ Sie muss Erwerbsunfähigkeitsrente beantragen - und wird in dieser Zeit schwanger. Im neuen Lebensabschnitt als Mutter fängt sie an, sich intensiv mit den Rechten von Menschen mit Behinderungen auseinanderzusetzen. „Ich habe mir vieles selbst angelesen und aus Gesetzesbüchern rausgesucht.“ Sie engagiert sich ehrenamtlich in der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. Ihre Erkrankung stabilisiert sich über die Jahre, auch wenn es immer wieder schwierige Zeiten gibt.

Irgendwann merkt Katrin Gensecke, dass der Einfluss von Verbänden begrenzt ist und tritt in die SPD ein. Dort gründet sie die Arbeitsgemeinschaft der Menschen mit Behinderungen (AG Selbst Aktiv!) mit, als deren Bundesvorsitzende sie in Berlin regelmäßig Zugang zum Parteivorstand hat. „Das ist gelebte Inklusion“, sagt die 50-Jährige. An mehreren Wahlprogrammen arbeitet sie mit - und wird in ihrer Partei nach und nach zur gefragten Expertin für Sozialpolitik.

Und doch ist sie überrascht, als die Anfrage kommt, ob sie ihr Ehrenamt zum Beruf machen will. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, hab ich gesagt. Aber Fraktion und Partei haben mich bestärkt: Du schaffst das!“ Seit einem Jahr ist sie nun im Landesparlament. SPD-Fraktionschefin Katja Pähle schwärmt: „Katrin Gensecke lässt sich durch nichts ausbremsen. Ich finde das toll, was sie macht!“

Nach dem Termin im Co-Working-Center steht für Katrin Gensecke Bürgersprechstunde im Wahlkreisbüro in Wolmirstedt auf dem Plan. Rentner beschweren sich über die ausbleibende Entlastung bei den steigenden Energiepreisen oder wollen mit ihr über den Lehrermangel in Sachsen-Anhalt diskutieren. Geduldig hört sie zu, schreibt mit, argumentiert und legt dar, was unternommen wird, um Abhilfe zu schaffen. Die Politiker-Rhetorik sitzt schon ganz gut. Zwischen den Gesprächen muss sie kurz durchatmen und Pause machen. Kümmerer zu sein, kostet sie eben auch viel Kraft. Doch ihre Motivation ist ungebrochen.

Katrin Gensecke will unbedingt die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vorantreiben. „Die gibt es seit 2009. Aber es gibt ganz viele Rechtsnormen, gegen die täglich verstoßen wird.“ Der Zugang zum Arbeitsmarkt und ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden sollen beispielsweise leichter werden. Beim Thema Barrierefreiheit sei zwar viel passiert, doch sowohl baulich als auch bei Broschüren in leichter Sprache würden die Behörden noch zu häufig hinterherhinken. „Viele Menschen mit Behinderungen sind frustriert.“

Die SPD-Politikerin setzt sich ein für eine Welt, in der Kinder nicht frühzeitig in Förderschulen geschickt werden. Auch auf dem Arbeitsmarkt müsse sich einiges ändern. „Der ist vieles, aber nicht inklusiv.“ Dass der Staat beispielsweise mit einem Budget für Arbeit Unterstützungsleistungen anbietet, wüssten viele Unternehmen nicht. Nur drei Prozent der Menschen mit Behinderungen hätten ihre Einschränkung von Geburt an, die meisten würden diese erst im Laufe des Lebens erwerben, sagt Gensecke. Für solche Umbrüche müsse die Gesellschaft Lösungen finden.

Vorbilder und Erfolgsgeschichten könnten dabei helfen, zu zeigen, dass Inklusion gelingen kann, ist Katrin Gensecke überzeugt. Malu Dreyer (SPD), die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, leidet beispielsweise ebenfalls an Multiple Sklerose. „Sie zeigt, was möglich ist“, sagt Gensecke und redet es nicht klein, dass Dreyer und sie im Alltag hin und wieder auf Andere angewiesen sind. Als Abgeordnete hat Gensecke Anspruch auf eine Begleitperson, die beim Autofahren oder bei Terminen hilft. Mal braucht sie mehr Unterstützung, mal weniger. Das entscheidet Katrin Gensecke selbst. „MS ist jeden Tag anders.“

© dpa-infocom, dpa:220801-99-230795/3

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