Nach beißender Kritik an Moskaus Kriegsführung in der Ukraine ist der General Iwan Popow als Kommandeur der berühmten russischen 58. Armee entlassen worden. Der 48-Jährige mit dem Kampfnamen „Spartak“ informierte seine Untergebenen, die er „Gladiatoren“ nennt, über seine Absetzung, nachdem er Missstände angeprangert hatte.
„Ich habe die Aufmerksamkeit auf die größte Tragödie des modernen Kriegs gelenkt - auf das Fehlen der Artillerieaufklärung und -bekämpfung und die vielfachen Toten und Verletzten durch die feindliche Artillerie“, teilte der Generalmajor mit.
Popow, dessen Armee im südukrainischen Gebiet Saporischschja kämpft, übte harte Kritik an seinen Vorgesetzten: „Die Soldaten der ukrainischen Streitkräfte konnten unsere Front nicht durchbrechen, aber von hinten hat uns der Oberbefehlshaber einen verräterischen Schlag versetzt, indem er die Armee im schwersten Moment der höchsten Anspannung enthauptet hat.“ Zuvor hatten andere Telegram-Kanäle berichtet, Generalstabschef Waleri Gerassimow habe Popow als „Panikmacher“ bezeichnet und ihn abgelöst.
Vom Verteidigungsministerium in Moskau gab es zunächst keinen Kommentar - wie immer, wenn Nachrichten über geschasste oder getötete Generäle die Runde machen. Zu vielen Fällen gibt es bis heute keine Erklärung - zur Entlassung des Vize-Verteidigungsministers Michail Misinzew etwa, der fehlt auf der Internetseite der Behörde.
Unklar ist weiterhin auch der Verbleib von Vize-Generalstabschef Sergej Surowikin, der im Urlaub sein soll. „Er erholt sich, ist nicht erreichbar“, meinte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Parlament, Andrej Kartapolow.
Nationalistische Kriegspropagandisten zeigten sich entsetzt über die Absetzung Popows, eines bei vielen Soldaten geschätzten Kommandeurs, der nach einer Verwundung rasch wieder zu seiner Truppe zurückgekehrt war. Der kremlnahe Militärkorrespondent Alexander Sladkow etwa sagte in einem Video auf seinem Telegram-Kanal mit mehr als einer Million Abonnenten, „Popow ist kein Verbrecher“ oder Rebell. Er habe als General seine Arbeit gemacht. Vor den russischen Truppen lägen große Herausforderungen, Soldaten und Generäle müssten gemeinsam kämpfen.
Auch andere Kriegsunterstützer lobten die 58. Armee als eine der größten und kampferfahrensten Einheiten der russischen Streitkräfte. Sie habe schon im Tschetschenien-Krieg gekämpft und in Südossetien 2008, als Russland Krieg gegen Georgien führte und die Kontrolle in der von der Südkaukasusrepublik abtrünnigen Region übernahm. Im Ukraine-Krieg war sie etwa maßgeblich an der Besetzung der Hafenstadt Mariupol beteiligt - und erlebt gerade die härtesten Schläge der ukrainischen Gegenoffensive, mit der Kiew seine besetzten Gebiete befreien will.
Popow verteidigte seine Offenheit gegenüber den Soldaten, er habe „kein Recht zu lügen“, das sei er auch den Toten schuldig, deshalb habe er Probleme ansprechen wollen. Er selbst wolle aber auch weiter kämpfen. „Wir sind verpflichtet, zusammen den Gegner zu zerstören“, meinte der Offizier, dessen Äußerungen dem Vernehmen nach nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.
Die für seine Kameraden bestimmte Sprachnachricht Popows veröffentlichte der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow auf seinem Telegram-Kanal, der sich daraufhin von der Regierungspartei Geeintes Russlands Kritik einhandelte. Die Partei warnte davor, eine „Show“ aus dem Fall zu machen.
Öffentliche Kritik an der Militärführung steht in Russland im Grunde unter Strafe. Viele Menschen sind bereits wegen Diffamierung der russischen Armee in dem Krieg verurteilt worden, darunter auch zu Haft im Straflager.
Dagegen meinte der Chef des Verteidigungsausschusses, Kartapolow, dass die Militärführung die angesprochenen Probleme lösen müsse. Es sei Aufgabe jedes Chefs, Probleme zu erkennen und seinen Untergebenen zuzuhören. „Deshalb glaube ich, dass das gehört und gesehen wurde und nun Maßnahmen ergriffen werden von denen, die dafür zuständig sind“, sagte Kartapolow mit Blick auf das Verteidigungsministerium.
Die Entlassung und Kritik Popows fügt sich in das Bild, das Militärexperten von der russischen Armee gut 16 Monate nach Beginn des von Kremlchef Wladimir Putin befohlenen Angriffskriegs gegen die Ukraine zeichnen. Demnach herrscht in großen Teilen der russischen Streitkräfte Unzufriedenheit mit der eigenen Militärführung und deren geschönten Lageberichten.
Prominentester Kritiker war lange Zeit der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, der immer wieder Führungsschwäche, Chaos und Unfähigkeit unter Verteidigungsminister Sergej Schoigu angeprangert hatte.
Prigoschin hatte am 24. Juni einen kurzzeitigen Aufstand gegen die Militärführung beendet. Wenig später traf er - wie bei der Rebellion gefordert - zusammen mit Dutzenden seiner Kommandeure doch noch mit Präsident Wladimir Putin im Kreml zusammen. Das Gespräch dauerte nach Kremlangaben drei Stunden. Über Ergebnisse wurde zunächst nichts bekannt. Kommentatoren in Moskau beklagten, es gebe inzwischen eine „Hexenjagd“ auf Kritiker in den Reihen des Militärapparats und weiter keine Bereitschaft, mit echten Missständen aufzuräumen.
In Russland wurde außerdem der stellvertretende Minister für digitale Entwicklung und Telekommunikation, Maxim Parschin, wegen des Verdachts auf Korruption festgenommen. „Vor Gericht ist der Antrag der Ermittler auf Untersuchungshaft als verfahrenssichernde Maßnahme gegen Parschin bis 12. September eingegangen“, zitierte die Nachrichtenagentur Interfax den Sprecher eines Moskauer Bezirksgerichts.
Parschin wird die Annahme von Bestechungsgeld in besonders hohem Umfang vorgeworfen. Einem Zeitungsbericht zufolge wurde er im Augenblick der Schmiergeldannahme festgenommen. Der 46-Jährige ist seit 2018 Vizeminister in der russischen Regierung. In seinen Aufgabenbereich fällt die Entwicklung von Informationstechnologien, die Schaffung günstiger Bedingungen für IT-Unternehmen und die Ausbildung von Programmierern.
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