Fast ein Jahr lang gelangte ukrainisches Getreide trotz des russischen Angriffskriegs auf den Weltmarkt. Möglich wurde das durch ein Abkommen zwischen den Kriegsgegnern, das die Türkei und die Vereinten Nationen vermitteln konnten. Nun hat Russland seine Drohung wahr gemacht und das Abkommen vorerst gestoppt. Der deutsche Bauernverband spricht von einem „politischen Poker Russlands“. Was das weltweit bedeutet:
Nach der anfänglichen russischen Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen konnte die Ukraine durch das Abkommen seit August 2022 rund 33 Millionen Tonnen Getreide exportieren. Die Ukraine gehörte vor dem Krieg zu den wichtigsten Getreideexporteuren und ihre Lieferungen sind wichtig, um Hungersnöte und Preissteigerungen weltweit zu verhindern.
Nach dem Abkommen prüfen russische, ukrainische und türkische und UN-Inspektoren, dass an Bord der Frachter, die Getreide abholen, keine Waffen in die Ukraine gelangen. Ohne russische Inspekteure können die Schiffe im Koordinierungszentrum in Istanbul nicht mehr abgefertigt werden.
Russland könnte auch die drei ukrainischen Häfen wie zu Anfang des Krieges blockieren. Ausländische Frachter könnten die Häfen, die ja unter ukrainischer Kontrolle sind, theoretisch auch ohne Russlands Zustimmung anfahren - gingen aber das Risiko ein, von russischer Seite beschossen zu werden.
Der Bauernverband sieht vorerst keine Engpässe auf dem deutschen und europäischen Markt. Hier stehe „die eigene Ernte zur Verfügung“, sagte der stellvertretende Generalsekretär Udo Hemmerling der Deutschen Presse-Agentur.
Bei einer längeren Unterbrechung könne es aber vor allem zu Lasten von Importeuren von Brotgetreide in arabischen Ländern, Afrika und Asien erneut zu Engpässen und Preissteigerungen im globalen Agrarhandel kommen. Hemmerling warf Russland einen „politischen Poker“ zu Lasten der Menschen in Entwicklungsländern vor.
Die dürften steigen, wie im vergangenen Jahr, als die ukrainischen Getreideexporte durch die russische Blockade plötzlich nicht mehr auf den Weltmarkt kamen. Als das Abkommen geschlossen war und die Ukraine wieder exportieren konnte, sanken die weltweiten Lebensmittelpreise nach UN-Angaben um 23 Prozent unter den Rekordwert von März 2022.
Darauf verwies auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir: „Vergessen wir nicht: Die Agrarexporte der Ukraine machen nicht nur weltweit Hungernde unmittelbar satt, sondern sie beruhigen die Weltmärkte und sorgen so für bezahlbare Nahrung - und bringen der Ukraine überlebenswichtige Einnahmen.“
Viele Länder sind für die Versorgung ihrer Bevölkerung auf Weizen aus der Ukraine angewiesen. In Dschibuti, Äthiopien, Somalia, Südsudan, Sudan und Uganda droht nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gut 10 Millionen Kindern akuter Hunger.
Die deutsche Botschafterin bei den UN-Organisationen in Genf, Katharina Stasch, nannte den Export „eine Frage von Leben und Tod“. Viele Familien geben schon jetzt den Großteil ihres Einkommens für Essen aus. Wenn die Preise steigen, fehlt ihnen das Geld zum Überleben.
Insgesamt bekamen die ärmsten Länder nach UN-Angaben seit Beginn der Getreideinitiative 1,9 Millionen Tonnen Weizen und 26.000 Tonnen Sonnenblumenöl. Von den Gesamtausfuhren der Ukraine ging zwar der größte Anteil nach China, aber dabei spielt der für die afrikanischen Länder so wichtige Weizen praktisch keine Rolle.
Ein Scheitern des Abkommen sei ein schwerer Rückschlag im Kampf gegen die Hungerkrise, sagte Sigrid Müller, die stellvertretende Direktorin des WFP-Büros in Berlin. Das WFP habe Hunderttausende Tonnen ukrainischen Weizens direkt zu den Brennpunkten des Hungers verschifft.
„Das Abkommen hat maßgeblich dazu beigetragen, die Nahrungsmittelpreise weltweit zu senken“, sagte sie. „Es steht nun zu befürchten, dass die Preisspirale bei Nahrungsmitteln wieder von vorn beginnt. Mehr Hunger und Not werden die Folge sein.“
Russland will erreichen, dass westliche Sanktionen gelockert werden. Es sieht seine eigenen Getreide- und Düngemittelexporte dadurch behindert. Die westlichen Sanktionen betreffen zwar weder Getreide noch Düngemittel direkt, aber die Geschäfte sind wegen Sanktionen im internationalen Zahlungsverkehr und bei Frachtversicherungen schwierig.
Die UN haben schon zugesichert, sich um Wege für russische Ausfuhren zu bemühen. Das hängt aber von den westlichen Ländern ab. Die EU hat die Gründung einer Tochter der russischen Agrarbank zur Abwicklung von Finanzgeschäften vorgeschlagen. Moskau verwarf das als bewusst nicht umsetzbare Lösung. Es würde Monate dauern.
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