Egal ob mit festen Brackets auf den Zähnen oder als lockere Klammer zum Herausnehmen - vielen Kinder und Jugendliche in Deutschen haben eine Zahnspange. Einer Studie der Barmer-Krankenkasse zufolge ist der Anteil der Kinder mit einer kieferorthopädischen Behandlung in Deutschland je nach Bundesland zum Teil aber sehr unterschiedlich.
Für den „Zahnreport“ wurden Abrechnungsdaten von rund 53.000 Kindern, die im Jahr 2005 geboren wurden, über zehn Jahre ausgewertet - von 2013 bis 2022. Die Kinder waren also 8 bis 17 Jahre alt.
Den Ergebnissen zufolge wurden etwa in Bayern rund 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen kieferorthopädisch behandelt, während es zum Beispiel in Bremen nur knapp 46 Prozent waren. Die unterschiedlich hohen Stichproben (Bayern: rund 6400, Bremen: rund 200) hängen den Autoren zufolge mit der unterschiedlichen Bevölkerungszahl zusammen (Bayern: mehr als 13 Millionen Menschen, Bremen: knapp 700.000).
Die Zahlen spiegelten die vollständige Stichprobe derjenigen wider, die unter die Studienkriterien fielen, hieß es. Der deutschlandweite Mittelwert der kieferorthopädischen Behandlungen lag in der Studie bei knapp 55 Prozent.
Der tatsächliche Behandlungsbedarf aber liegt bei Acht- bis Neunjährigen laut der sogenannten Deutschen Mundgesundheitsstudie aus dem Jahr 2022 mit rund 40 Prozent deutlich darunter. Die im Schnitt höhere Inanspruchnahme der Barmer-Versicherten liegt laut Studienautor Michael Walter von der Technischen Universität Dresden in einem „erwartbaren Bereich“.
Denn bei der Mundgesundheitsstudie werde von einer Untererfassung des Bedarfs ausgegangen - vor allem, weil für die Studie nur Kinder im Alter von acht und neun Jahren untersucht wurden, aber nicht in einem höheren Alter.
Die Differenzen zwischen manchen Regionen aber hätten überrascht. „Mit Kieferanomalien und Zahnfehlstellungen allein sind diese deutlichen regionalen Unterschiede nicht begründbar“, sagte der Barmer-Vorstandsvorsitzende Christoph Straub während der Vorstellung der Ergebnisse in Berlin.
Laut den Studienautoren können die überdurchschnittlich hohen Werte in einigen Bundesländern auf eine mögliche Übertherapie hindeuten. Klar nachweisbar sei das allerdings nicht. Von einer Übertherapie spricht man, wenn Behandlungen durchgeführt werden, die keinen erwiesenen oder erkennbaren Nutzen für Patienten haben. Regionalen Unterschiede sind laut Straub keine Besonderheit der Kieferorthopädie, sondern treten auch in anderen Fachrichtungen auf.
„Ich finde das schon viel“, sagte Kieferorthopäde Alexander Spassov der Deutschen Presse-Agentur zu den regionalen Unterschieden. Die Studienergebnisse wiesen seiner Ansicht nach „ein bisschen“ auf eine Übertherapie hin. Um das nachzuweisen, müsste allerdings genau auf die durchgeführten Behandlungen geschaut werden. Also zum Beispiel, ob ein Kind eine feste Zahnspange mit kostenpflichtigen Brackets bekommen hat, obwohl das medizinisch nicht notwendig war.
Dass es Orte in Deutschland gibt, an denen Kinder und Jugendliche mehr Probleme mit ihren Zähnen haben als an anderen, schließt er aus. „Wir können nicht davon ausgehen, dass Menschen in Bremen weniger schiefe Zähne haben als in München.“ Auch die ästhetischen Standards seien deutschlandweit relativ gleich, ebenso wie die Vergütung von Kieferorthopäden.
Spassov geht davon aus, dass die Inanspruchnahme mit dem sozialen Status zusammenhänge. In Bayern, Baden-Württemberg oder Münster - einem der Kreise mit der laut Studie höchsten Inanspruchnahme - gebe es mehr wohlhabende Menschen als etwa in Bremen und damit auch mehr Eltern, die eine potenziell teure Behandlung beim Kieferorthopäden bezahlen könnten.
Spassov ist ein bekannter Kritiker seiner Branche und betreibt eine Praxis in Greifswald und eine in Wolgast in Mecklenburg-Vorpommern. Er kritisiert, dass viele Kieferorthopäden ihren Patienten medizinisch nicht notwendige oder gewünschte Behandlungen anböten oder diese unnötig in die Länge zögen, um mehr Geld zu verdienen.
Der Bundesvorsitzende des Berufsverbands der Deutschen Kieferorthopäden (BDK), Hans-Jürgen Köning, teilte der dpa zu den Ergebnissen der Studie mit: „Wenn die regionalen Unterschiede durch unterschiedliche Auslegungen der Richtlinie begründet sind, wären hier Klarstellungen erforderlich.“
Der Studie zufolge gibt es nicht nur Unterschiede zwischen den Bundesländern, sondern auch zwischen Mädchen und Jungen. Bei Mädchen bekamen in der Untersuchungsgruppe rund 60 Prozent eine Behandlung, bei den Jungen 50 Prozent. In Bayern waren es bei Mädchen demnach sogar 65 Prozent (Jungen: 53 Prozent), in Baden-Württemberg rund 63 Prozent (Jungen: 52 Prozent). Auch Spassov beobachtet das seinen Angaben zufolge in seinen Praxen.
Alle Beteiligten liefern dafür dieselbe Erklärung: „Mögliche Gründe für das deutlich Mehr an Versorgung bei Mädchen können Schönheitsideale, Gruppendruck oder eine besondere elterliche Fürsorge sein“, sagte Straub.
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