Die zwei Clowns fahren Ruderboot in der Manege und verteilen Riesenseifenblasen über dem Publikum. Leuchtende Kinderaugen, Applaus und Lachen in Neuwied am Rhein. Das Clownpaar ist auch im wirklichen Leben ein Ehepaar.
Katharina aus Russland und Gnadi aus der Ukraine treten im deutschen „Moskauer Circus“ auf. Direktor Gino Frank sagt zu seiner 70-köpfigen Truppe: „Bei uns sind 20 Russen und 9 Ukrainer.“ Nur zwei Flugstunden weiter östlich schießen Soldaten dieser beiden Nationen aufeinander - in Neuwied betont Frank: „Wir sind das ganze Jahr eine große Familie auf engstem Raum. Wir wollen keinen Krieg. Das ist eine Tragödie.“ Demonstrativ wehen vor seinem Zirkuszelt ukrainische Fahnen.
Laut dem Vorstandschef des Verbandes Deutscher Circusunternehmen, Ralf Huppertz, treten in zahlreichen der bundesweit rund 250 Zirkussen Artisten aus Russland und der Ukraine auf: „Im ehemaligen Ostblock sind sie besser gefördert worden. Da gibt es immer noch staatliche Zirkusse.“ Bis heute seien Zirkusartisten in Osteuropa infolge ihrer großen Tradition teils mehr anerkannt als im Westen. Manche Zirkusse hätten das Problem, „dass Artisten nicht mehr aus der Ukraine rauskommen“. Auch Zirkusdirektor Frank zählt Russland, die Ukraine und China als die bedeutendsten Zirkusnationen der Welt auf.
In seinem Unternehmen freuten sich die Artisten aus rund zehn Nationen nach zwei Jahren Corona-Pause über den Neustart. Doch das achtköpfige Zirkusorchester aus der Ukraine fehle: „Sie haben ihre Visa noch vor dem Krieg bekommen, sind aber kurz nach dem 24. Februar an ihrer Grenze eingezogen worden und müssen jetzt ihr Land verteidigen.“ In dem großen rot-weißen Kuppelzelt kommt die Musik daher vom Band.
Auch der „Circus Krone“ in München gibt vielen ukrainischen Artisten ein zweites Zuhause. Mit Beginn des Programms am 12. Februar trafen die Künstler im Zirkus ein - kaum zwei Wochen später war ihre Welt eine andere. Freunde und Verwandte der Artisten, die nach dem Kriegsausbruch aus der Ukraine nach Bayern fliehen konnten, wurden von einem der größten Zirkusse der Welt mit offenen Armen empfangen. „Sie können alle so lange bleiben, wie es notwendig ist“, betont Frank Keller vom „Circus Krone“. Der Zirkus soll nach seinen Worten unpolitisch sein und alle Nationen unter einem Dach vereinen.
Mit Hilfe der Show können die Künstler abschalten und einen Alltag erleben, den sie zuvor verloren haben. „Wenn du nicht auf dein Handy guckst, denkst du oft, dass alles normal ist“, betont eine Tänzerin der Theatergruppe „Bingo“. So sind die Mitarbeiter zerrissen zwischen ihrem Alltag im „Circus Krone“ und dem Leiden in ihrem Heimatland.
Beim „Moskauer Circus“ mit Sitz im nordrhein-westfälischen Hamminkeln soll der Name laut seinem Direktor Gino Frank an die große osteuropäische Zirkustradition erinnern: „Wir schämen uns nicht für unseren Namen.“ Der „Moskauer Circus“ ist dabei nicht zu verwechseln mit dem russischen „Großen Moskauer Staatszirkus“.
Verheiratet ist Gino Frank mit Leyla Mak, Tochter eines russischen Ex-Generaldirektors mehrerer Zirkusse und einer einstigen ukrainischen Artistin. Mak betont laut einer Mitteilung der Stadt Neuwied, der Zirkus solle ein Symbol dafür sein, „dass dieser Krieg nicht der Krieg des russischen Volkes gegen das ukrainische Volk ist. Unsere Familie, unsere Zirkusdynastie ist der Liebe zwischen ukrainischen und russischen Artisten entsprungen.“
Anfangs führt der Name „Moskauer Circus“ in Neuwied zu Missverständnissen - eine russische Artistentruppe von Präsident Wladimir Putins Gnaden? Stadtsprecher Frank Blum berichtet von Anfeindungen. Auch die Kommune habe erst Plakate entfernen lassen, sei jedoch nach einem Gespräch mit dem Zirkus zurückgerudert. In einer Mitteilung zeigt die Stadt „Verständnis für die emotional aufgeheizte Lage, warnt aber mit Nachdruck davor, alle russischen oder Russisch sprechenden Menschen pauschal zu verurteilen“.
Leyla Maks Eltern lebten in der Ukraine nahe der russischen Grenze - seine Frau habe große Angst um sie, berichtet Gino Frank. Bewusst sei die aktuelle Show des „Moskauer Circus“ „One World“ (Eine Welt) getauft worden - ganz im Sinne der Völkerverständigung.
Bei der Vorstellung in Neuwied ist auch Erika Kuth mit vier Kindern. „Meine Mutter kommt aus Russland“, erzählt sie. „Ich finde die Hetze schlimm gegen die Russen hier, die nicht für Putin sind. Der Zirkus hat mir mit seinem Namen leid getan. Wir unterstützen ihn gerne.“
Auch Dietmar Rieth, einst rheinland-pfälzischer Landtagsabgeordneter der Grünen, kommt mit seiner vierjährigen Enkelin Maya und weiterer Familie zur Vorstellung: Der gemeinsame Auftritt von russischen und ukrainischen Artisten müsse als eine „gute Botschaft“ unterstützt werden im Kampf gegen hiesige Russlandphobie, sagt er. Putin sei ein kriegführender Despot, hinter dem keineswegs alle Landsleute stünden.
Mehrere Hundert Zuschauer sitzen bald im großen Chapiteau, wie ein Zirkuszelt in der Fachsprache heißt. Seiltänzer springen durch Feuerreifen, Luftakrobaten bekommen Applaus im Gleichklang, eine Trampolinspringerin macht einen dreifachen Salto mortale, kleine und große Zuschauer vertilgen Popcorn und Zuckerwatte, ein Papagei schiebt einen Mini-Einkaufswagen.
Bald soll auch ein Zirkusballett mit sechs Ukrainerinnen hinzukommen. Direktor Frank sagt: „Wir nehmen sie als Flüchtlinge auf.“ Plus bis zu 20 weitere Vertriebene aus der Ukraine.
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