Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat der Ukraine beim Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Berlin anhaltende militärische Unterstützung zugesichert, sich aber gleichzeitig für Friedensbemühungen stark gemacht. Er verwies unter anderem darauf, dass bis Ende des Jahres ein Waffenpaket mit weiteren Luftverteidigungssystemen, Artillerie und Drohnen im Wert von 1,4 Milliarden Euro zusammen mit Belgien, Norwegen und Dänemark geliefert werden soll. Er warb aber auch für eine neue Friedenskonferenz mit Russland, um einem Ende des Krieges näher zu kommen.
Waffen liefern und gleichzeitig die Bemühungen um eine Friedenslösung vorantreiben - das ist die Doppelstrategie, die Scholz seit Monaten im Ukraine-Krieg verfolgt. Deutschland ist weiterhin der zweitwichtigste Waffenlieferant der Ukraine nach den USA. Das werde auch so bleiben, versicherte Scholz Selenskyj. „Deutschland steht weiter fest an der Seite der Ukraine.“
Die Hilfe zeige zum einen: „Die Ukraine kann sich auf uns verlassen.“ Zweitens sei es ein Signal an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass dessen Spiel auf Zeit nicht funktionieren werde. Laut Scholz erhält die Ukraine unter anderem weitere Luftverteidigungssysteme vom Typ Iris-T und Skynex, Flakpanzer Gepard, Panzer- und Radhaubitzen, Kampfpanzer, geschützte Fahrzeuge, Kampfdrohnen, Radare und Artilleriemunition.
Selenskyj bedankte sich für die Hilfe: „Deutschland hat uns mehr als andere mit Flugabwehr geholfen. Das ist eine Tatsache. Und das rettete tausende Leben von Ukrainern und gibt unseren Städten und Dörfern Schutz vor dem russischen Terror“, sagte er. Er dankte ebenso für die politische und wirtschaftliche Hilfe. „Ich danke für die gesamte Menge an Hilfen. Für uns ist es sehr wichtig, dass im nächsten Jahr die Hilfe nicht geringer wird.“
Die beiden äußerten sich unmittelbar nach der Landung Selenskyjs mit einem Hubschrauber am Kanzleramt vor ihren Gesprächen. Der Wunsch der Ukraine nach weitreichenden Waffen und deren Einsatz bis tief in russisches Territorium war dabei kein Thema. Scholz hat immer wieder klargemacht, dass er die deutschen Marschflugkörper vom Typ „Taurus“ mit einer Reichweite von 500 Kilometern nicht liefern wird. Er sieht die Gefahr, dass Deutschland und die Nato so in den Krieg hineingezogen werden könnten
Die USA, Großbritannien und Frankreich haben dagegen Raketen mit einer Reichweite bis 300 Kilometern geliefert. Ihr Einsatz gegen Ziele in Russland wird noch diskutiert. Scholz zählt zu den Skeptikern.
Scholz nutzte das Treffen, um für verstärkte diplomatischen Bemühungen um eine Friedenslösung zu werben. Er und Selenskyj seien sich einig, dass es eine weitere Friedenskonferenz geben müsse, an der auch Russland teilnehmen solle, sagte der Kanzler und fügte hinzu: „Klar ist, eine Verwirklichung des Friedens kann nur auf Basis des Völkerrechts geschehen. Das wird noch enorme Anstrengung erfordern.“ Richtschnur des gemeinsamen Handelns bleibe das Bemühen um einen gerechten und dauerhaften Frieden für die Ukraine. „Wir werden keinen Diktatfrieden Russlands akzeptieren“, betonte Scholz.
Selenskyj sagte, er wolle in Berlin „realistische Schritte“ für einen Weg zum Frieden vorstellen. Russland müsse zum Frieden gezwungen werden, dann könnte der Krieg auch schon 2025 vorbei sein. Auch in London, Paris und Rom hatte er zuvor diese Pläne vorgestellt.
Es ist der zweite Deutschland-Besuch des ukrainischen Präsidenten innerhalb von fünf Wochen und das dritte persönliche Gespräch mit Scholz in diesem Zeitraum. In Berlin war auch ein Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geplant. In der Hauptstadt herrschten wegen Selenskyjs Besuch scharfe Sicherheitsvorkehrungen.
Eigentlich wollte Selenskyj am Samstag an einem Ukraine-Gipfel mit 50 verbündeten Ländern auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein teilnehmen. Nach der Absage von US-Präsident Joe Biden wegen des Hurrikans „Milton“ wurde der Gipfel aber verschoben. Stattdessen ging Selenskyj auf Tour zu seinen wichtigsten europäischen Verbündeten.
Er wirbt dabei für seinen sogenannten Siegesplan, von dem bisher nicht viel bekannt ist. Es gehe darum, Bedingungen „für ein gerechtes Ende des Krieges“ zu schaffen, hatte er vor seiner Ankunft in Berlin gesagt. Unter einem „gerechten“ Kriegsende versteht Selenskyj den Rückzug russischer Truppen aus den besetzten Gebieten. Berichten über Pläne für einen Waffenstillstand hatte Selenskyj schon in Paris widersprochen. „Eine Feuereinstellung ist kein Thema unserer Beratungen mit den Verbündeten, und wir sprechen nicht darüber.“
Russische Truppen setzen nach Kiewer Militärangaben unterdessen ihre Offensive im Osten der Ukraine mit großer Wucht fort. Bis Freitagnachmittag zählte der ukrainische Generalstab fast 80 Sturmangriffe des Gegners. Der Schwerpunkt der Angriffe richte sich weiter gegen die Städte Pokrowsk und Kurachiwe. Die Zahlen des Militärs sind nicht im Detail überprüfbar, lassen aber einen Rückschluss auf die Intensität der Gefechte zu.
Nach ukrainischen Angaben hat die russische Armee auch die ostukrainische Bergarbeiterstadt Torezk im Gebiet Donezk zur Hälfte eingenommen. „Orientierungsweise 40 bis 50 Prozent der Stadt befinden sich unter der Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte. Das übrige Stadtgebiet ist vom Feind erobert“, sagte der Chef der städtischen Militärverwaltung, Wassyl Tschyntschyk, im ukrainischen Nachrichtenfernsehen. Am Donnerstag sei ein weiteres russisches Vordringen jedoch verhindert worden.
Der Kanzler wirbt in den vergangenen Wochen verstärkt für einen Friedensprozess. Er hat immer wieder deutlich gemacht, dass er dafür nach fast zwei Jahren Funkstille auch grundsätzlich bereit ist, wieder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu sprechen. Eine klare Mehrheit der Deutschen hält das für richtig. Nach einer YouGov-Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur wünschen sich 59 Prozent ein Telefonat der beiden, in Ostdeutschland sind es sogar 68 Prozent.
Gespalten sind die Deutschen in der Frage, ob die Ukraine für Frieden mit Russland auf einen Teil ihres Staatsgebiets verzichten sollte. 39 Prozent sagen, sie sollte keinen Zentimeter preisgeben. 22 Prozent meinen dagegen, die Ukraine sollte auf die bereits 2014 von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim verzichten. Weitere 23 Prozent plädieren sogar dafür, dass Kiew neben der Krim auch Gebiete aufgeben sollte, die seit der Invasion im Februar 2022 von Russland besetzt wurden. Zusammen sind also 45 Prozent für einen Gebietsverzicht.
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