Die Deutsche Bahn fährt dank stark steigender Nachfrage und guter Geschäfte bei der Logistik-Tochter DB Schenker schneller aus dem finanziellen Corona-Loch als erwartet.
Doch auf dem Schienennetz offenbart sich für die Fahrgäste seit Monaten, was während der Pandemie bei all den leeren Zügen zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten war: Es ist höchst sanierungsbedürftig. Zahlreiche Baustellen sollen das ändern, bremsen den Verkehr gleichzeitig aber stark aus. Lediglich 69,6 Prozent der Fernverkehrszüge kamen im ersten Halbjahr dieses Jahres im Schnitt pünktlich ans Ziel, wie der Konzern mitteilte.
Im Vorjahreszeitraum waren es noch knapp 80 Prozent. Dabei nimmt die Bahn Verspätungen erst ab einer Verzögerung von sechs Minuten in die Statistik auf. Zugausfälle sind in diesen Zahlen noch gar nicht berücksichtigt. „Qualität und Pünktlichkeit sind derzeit nicht akzeptabel“, sagte Bahnchef Richard Lutz erneut. „Im Kern lassen sich die aktuellen Probleme auf mangelnde Kapazität und überalterte Infrastruktur zurückführen.“
Auf das künftig geplante Wachstum sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr sei das Netz derzeit bei weitem nicht ausgelegt, warnte der Konzernchef. Bis 2030 sollen doppelt so viele Fahrgäste mit der Bahn unterwegs sein wie 2015. Und auch im Güterverkehr soll sich der Anteil auf der Schiene von derzeit um die 19 Prozent auf 25 Prozent erhöhen. „Bei einem „Weiter so“ wird sich die Situation nicht entspannen, sondern verschärfen“, warnte Lutz.
„Das System Bahn wurde leider jahrelang vernachlässigt“, teilte auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) mit. „Die Folgen sind heute an vielen Stellen spürbar, es fehlen Trassen, es fehlt technische Infrastruktur, es fehlen Kapazitäten.“ Damit sei nun Schluss. Wissing verwies auf die Ausbaupläne, die er und Lutz vor einigen Wochen vorgestellt hatten. „Die vorbereitenden Maßnahmen, wie die Planung und Ertüchtigung von Umleitungsstrecken, die wir für die Modernisierung der großen Korridore brauchen, laufen bereits.“
Wie schnell die Nachfrage nach dem Ende der Pandemie-Beschränkungen zurückgekehrt ist, habe selbst ihn überrascht, sagte Lutz. Die Bahn verzeichnete allein im Fernverkehr im ersten Halbjahr eigenen Angaben zufolge mehr als 59 Millionen Reisende. Das waren demnach mehr als doppelt so viele (plus 117 Prozent) wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Im Regionalverkehr stieg die Nachfrage demnach um 60 Prozent auf rund 725 Millionen Fahrgäste.
Vom Vor-Krisen-Niveau sind solche Zahlen bezogen auf das Halbjahr noch weit entfernt. In den ersten sechs Monaten 2019 verzeichnete der Konzern eigenen Angaben zufolge fast 72 Millionen Reisende im Fernverkehr und knapp 978 Millionen im Regionalverkehr. Doch im vergangenen Juni und Mai sei das Niveau von damals bereits überschritten worden und habe ein Allzeithoch erreicht.
Die hohe Nachfrage sowie das gute Geschäft bei der Logistiktochter Schenker haben dem Konzern vor allem finanziell die dringend benötigte Entlastung gebracht. „Die Trendwende ist gelungen: Die Nachfrage boomt, und wir schreiben wieder schwarze Zahlen“, erklärte Konzernchef Lutz. Demnach machte das Unternehmen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres unterm Strich einen Gewinn von 424 Millionen Euro. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres stand hier noch ein Verlust in Höhe von 1,4 Milliarden Euro zu Buche. Für das laufende Jahr rechne Lutz mit einem operativen Gewinn vor Zinsen und Steuern (Ebit) von mehr als einer Milliarde Euro.
Doch solche Prognosen stehen unter dem Vorbehalt der weiteren Entwicklung in Folge des Ukraine-Kriegs und der Inflation. Auch die Bahn spüre die deutlich gestiegenen Energiekosten, betonte Finanzvorstand Levin Holle am Donnerstag. An die Güterverkehrskunden hätten diese Kosten bereits weitergereicht werden müssen. Dass im kommenden Jahr auch für die Fahrgäste im Fernverkehr die Tickets teurer würden, wollte der Finanzchef nicht ausschließen. „Wir prüfen sehr genau die Situation“, sagte er.
Noch allerdings freuen sich Reisende insbesondere im Regionalverkehr über das günstige 9-Euro-Ticket. „Das Experiment ist geglückt“, sagte der Bahnchef mit Blick auf die Sonderfahrkarte. Mit dem Ticket können Fahrgäste im Juni, Juli und August für jeweils neun Euro im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) durch ganz Deutschland fahren.
Derzeit tobt die Debatte darüber, wie es danach weitergehen soll. Die Bahn-Gewerkschaften GDL und EVG sehen das Sonderangebot kritisch. „Das 9-Euro-Ticket kann so nicht fortgeführt werden“, sagte der Vizevorsitzende der Gewerkschaft EVG, Martin Burkert. „Die Belegschaft hat die Belastungsgrenze erreicht und teilweise überschritten.“ Angesichts dieser Überlastung könne das Ticket nicht verlängert werden.
Ähnlich äußerte sich der Chef der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky. Mit dem Ticket, das eigentlich Pendler entlasten solle, habe man zusätzliche Anstürme von Reisenden auf die Bahn gebracht. „Das tut dem System nicht gut, weil es sowieso schon auf Verschleiß gefahren wird. Jetzt sind wir zusätzlich noch völlig überlastet.“
Nach Einschätzung von Lutz braucht es auf der Schiene vor allem die nötige Kapazität, um den Anfrageboom aufzufangen. „Dann wird auch die Belastungssituation für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine sein, mit der wir leben können.“ Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg.
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