Eine Stadt unter Wasser und Helfer unter Zeitdruck: Auch Tage nach den schweren Überschwemmungen im Zuge des Sturms „Daniel“ in Libyen sprechen internationale Helfer von einer „katastrophalen humanitären Lage“ im Land.
Zur Zahl der Todesopfer gab es bis Freitag weiterhin widersprüchliche Angaben, in der schwer getroffenen Hafenstadt Darna werden bis zu 20.000 Tote befürchtet. Rettungsteams stehen im Wettlauf gegen die Zeit und beim Versuch, Überlebende zu finden, auch vor gewaltigen logistischen Herausforderungen.
„Die humanitäre Lage in Libyen ist katastrophal. Die Bedürfnisse sind größer als die Fähigkeiten aller internationalen, in Libyen arbeitenden Organisationen und örtlichen Behörden“, sagte der Sprecher des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Libyen, Baschir Omar, der Deutschen Presse-Agentur. Ein Flugzeug des Internationalen Roten Kreuzes startete mit 5000 Leichensäcken von Genf nach Bengasi, wie die Organisation bei X (vormals Twitter) mitteilte.
Die Fluten haben Zufahrtsstraßen zur besonders schwer betroffenen Hafenstadt Darna weggeschwemmt, wichtige Brücken sind unter Schlammmassen begraben. Risiken könnten laut Experten auch Blindgänger und verlassene Munitionslager darstellen. Das Rote Kreuz erklärte, dass es die Gefahr möglicher nicht explodierter Sprengsätze prüfe. Dies sei eine „zusätzliche Herausforderung“, sagte Baschir Omar. Das nordafrikanische Libyen steckt seit Jahren in einem Bürgerkrieg.
Zugleich wächst die Sorge vor dem Ausbruch von Krankheiten angesichts der vielen Todesopfer und nicht abfließender Wassermassen. In Darna seien mehrfach Durchfallerkrankungen gemeldet worden, sagte Haidar al-Saih, Leiter des Nationalen Zentrums für Seuchenbekämpfung.
Es kann dann zu Problemen kommen, wenn Leichen in der Nähe von Wasserquellen liegen, erklärt Bilal Sablouh. Er ist bei der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) für Forensik in Afrika zuständig. Austretende Körperflüssigkeiten könnten Wasserquellen verunreinigen. Wenn davon getrunken werde, könne dies Durchfallerkrankungen auslösen. Aber solange Leichen nicht mit Wasserquellen in Berührung kämen, seien sie keine Gesundheitsbedrohung, betonte er.
Auch WHO-Sprecherin Margaret Harris sagte: Leichen stellten nicht per se Gesundheitsrisiken dar. Es gebe nach Expertenangaben auch keine Hinweise darauf, dass nicht beerdigte Todesopfer zur Verbreitung von Epidemien beitragen. Und Pierre Guyomarch von der forensischen Abteilung des IKRK stellte klar: Es sei wahrscheinlicher, dass die Überlebenden eines solchen Ereignisses Krankheiten übertragen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte in dem Zusammenhang davor, Todesopfer in den Überschwemmungsgebieten wie auch in Marokkos Erdbebengebiet überhastet in Massengräbern zu bestatten. Eine würdige Bestattung sei wichtig für den Trauerprozess und die mentale Gesundheit von Familienmitgliedern.
Wie viele Opfer insgesamt zu beklagen sind, bleibt weiterhin unklar. Libyens IKRK-Sprecher Omar sagte, dass es angesichts der unübersichtlichen Lage noch zu früh sei, um verlässliche Angaben zu Toten und Verletzten zu machen. „Die Katastrophe spielt sich immer noch ab. Die Rettungseinsätze laufen. Deshalb können wir die endgültige Zahl der Todesopfer oder Verletzten nicht vorhersagen.“
Der Kollaps zweier Staudämme, die mutmaßlich über Jahre nicht gewartet wurden, hatte nach dem Sturm „Daniel“ zu den massiven Überschwemmungen geführt. Inzwischen machten Warnungen die Runde, dass auch ein dritter Staudamm östlich von Bengasi einbrechen könnte. Die Regierung mit Sitz im Osten des faktisch gespaltenen Landes teilte aber mit, dass die Lage an den beiden Dämmen Al-Katra und Wadi Dschasa unter Kontrolle sei.
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