Ulrike Draesner ist eine der profiliertesten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart. Ihr letzter Roman „Die Verwandelten“ stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, viele andere Auszeichnungen hat die 62-Jährige bereits gewonnen. Mit „zu lieben“ hat die in München geborene Autorin nun ein sehr persönliches Buch geschrieben.
„Roman“ lautet der Untertitel des Buches - aber das Wort ist durchgestrichen. Damit weist Draesner bereits darauf hin, dass sie hier ihre eigene Geschichte literarisch verarbeitet. Sie erzählt in „zu lieben“ von Elternschaft. Die Erzählerin, die keine leiblichen Kinder bekommen konnte, adoptiert gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann ein Mädchen aus Sri Lanka.
Ungemein präzise beschreibt Draesner den Weg dorthin, die Zeit vor Ort und danach. Es geht um die ohnmächtigen Wochen in Sri Lanka mit teils recht willkürlichen, undurchschaubaren bürokratischen Vorgängen, um Besuche im dortigen Kinderheim, das langsame Kennenlernen eines dreijährigen Mädchens.
Elternschaft, Familienleben - das sind Konzepte, die erst erschaffen, immer neu verhandelt werden müssen, stellt die Erzählerin fest. „Identität ist kein Zustand, sie ist ein Prozess“, heißt es an einer Stelle.
Der Prozess ist manchmal mühsam, doch die Erzählerin klagt nie, sie beobachtet nur sehr genau. Und nimmt es mit Humor: „An diesem Abend saßen wir auf unserem Bett in Heidis Haus und fühlten uns in etwa so wohl wie zwei indische Motten über einem Becken mit Mottenkugeln“, schreibt sie.
Gleichzeitig findet Draesner - die auch am Deutschen Literaturinstitut Leipzig lehrt - unglaubliche Worte für all die Umwälzungen, die sie und ihre Familie innerhalb kurzer Zeit erleben. „Wenn man den Rand eines Glases befeuchtet und dann mit dem Finger um diesen Rand fährt, gibt das Glas einen Ton. Das ist, wie ich mich in den ersten Tagen in Berlin fühlte: der Ton dieses Glases. Ich fühlte mich wie das, was das Wort „zerspringen” meint.“
Eine ganz besondere Familiengeschichte ist Draesner mit „zu lieben“ gelungen. Und ein wichtiges Buch in einer Zeit, in der immer offener über alternative Formen von Familie oder Muttersein nachgedacht wird.
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