Verbreitet und oft unerkannt: Schweres Leid durch Lipödem | FLZ.de

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Veröffentlicht am 23.02.2024 08:16

Verbreitet und oft unerkannt: Schweres Leid durch Lipödem

Frauen mit Lipödem-Erkrankung. Betroffene kämpfen für eine Ent-Stigmatisierung der Krankheit und fordern mehr kompetente Ärzte. (Foto: Carina Gorny Fotografie/Lipödem-Gesellschaft/dpa)
Frauen mit Lipödem-Erkrankung. Betroffene kämpfen für eine Ent-Stigmatisierung der Krankheit und fordern mehr kompetente Ärzte. (Foto: Carina Gorny Fotografie/Lipödem-Gesellschaft/dpa)
Frauen mit Lipödem-Erkrankung. Betroffene kämpfen für eine Ent-Stigmatisierung der Krankheit und fordern mehr kompetente Ärzte. (Foto: Carina Gorny Fotografie/Lipödem-Gesellschaft/dpa)

Es ist eine schwere, unheilbare Erkrankung, die nahezu ausschließlich Frauen trifft und oft eine massive Volumenzunahme vor allem an Beinen und Armen sowie Dauerschmerzen bedeutet. Das Lipödem ist weitverbreitet, bleibt aber häufig unerkannt oder wird mit Adipositas verwechselt. Die Ursachen der chronischen Krankheit, bei der es zu einer drastischen Vermehrung und Vergrößerung von Fettzellen kommt, sind noch immer weitgehend unklar. 

Für Tanja Degner begann es im Jahr 2000, nach der Geburt ihres Sohnes. „Ich hatte geschwollene Fußknöchel, schwere, schmerzende Beinen, habe stark zugenommen“, erzählt die 52-Jährige. „Meine Hausärztin sagte, ich solle weniger essen.“ Sie habe es mit einer Diät von täglich unter 1000 Kilokalorien versucht - und doch wuchsen der Umfang der Beine und Arme und ihr Gewicht erheblich.

„Die Schmerzen haben zugenommen, ich hatte Hämatome, konnte keine Berührung aushalten.“ Ein TV-Beitrag bringt sie auf die Spur, sie sucht den erwähnten Mediziner auf. „Nach einem wahren Ärzte-Marathon und 14 Jahren mit extremer Gewichtszunahme und starken Beschwerden habe ich dann endlich die richtige Diagnose bekommen“, schildert Tanja Degner, die im Landkreis Osnabrück nahe an der NRW-Grenze lebt. „Der Weg bis zur Diagnose ist für viele Frauen voller Stolpersteine.“

Der Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am Uniklinikum Münster, Tobias Hirsch, spricht von einem „Diagnose-Gap“ von oft rund 20 Jahren, bis das Lipödem richtig erkannt werde. „Wir wissen zu wenig über diese Krankheit und was genau im Körper passiert.“ Klare Zahlen zu Betroffenen gebe es nicht, die Dunkelziffer sei hoch.

Unstrittig: „Ein relevanter Teil der weiblichen Bevölkerung ist betroffen.“ Es gebe wenig spezialisierte Ärzte, bei denen es zu extremen Wartezeiten komme. „Wir gehen von einer genetischen Veranlagung und hormonellen Triggern aus, und dass das Lipödem in hohem Maße Diät-resistent ist.“ Trotzdem spiele Ernährung eine Rolle. Manchmal komme Adipositas noch obendrauf.  

Eine fortschreitende Erkrankung in drei Stadien

Das Lipödem wird je nach Fettgewebemenge in die Stufen I bis III unterteilt. Im dritten Stadium kann der Umfang so enorm sein, dass das Gewebe über die typischerweise schmal bleibenden Knie-, Hand- und Fußgelenke hinüberhängt. Bei manchen verharre das Lipödem aber auch in Stadium I oder II, erläutert Hirsch, der im Gesundheitsausschuss des Bundestags als Sachverständiger eine bessere Versorgung angemahnt hatte. Die Stufen-Einteilung nach Fettmasse hält er für sehr problematisch, denn der Schmerz sei das zentrale Symptom. „Es kann sein, dass eine Patientin mit noch schlanken Beinen im Stadium I sehr viel stärkere Schmerzen hat als eine Frau im Stadium III mit massiver Volumenzunahme.“

Claudia Effertz von der Lipödem-Gesellschaft (LipöG) schätzt, dass bundesweit bis zu vier Millionen Frauen vom Lipödem betroffen sind, sehr viele das aber nicht wissen. Es brauche eine breite Informationskampagne. Meistens trete das Lipödem in Pubertät, Schwangerschaft oder Menopause auf. Es könne zu orthopädischen Begleiterkrankungen wie einer Fehlstellung der Beinachsen oder Gelenkverschleiß kommen. Auch die seelischen Belastungen seien schwer. Verlauf, Ausmaß und Dynamik variierten. 

Kompressionswäsche und Lymphdrainage helfen, die Beschwerden zu lindern. Auch Tanja Degners Tag beginnt damit, sich in medizinische Kompressionsstrümpfe zu zwängen. „Ich habe 24 Stunden am Tag Schmerzen in den Armen und den Beinen und bin von einem sekundären Lymphödem betroffen“, schildert sie - es droht ihr also auch eine Degeneration der Lymphgefäße. Das Gewicht belastet Wirbelsäule und Gelenke, zwei Knie-Operationen waren erforderlich. In ihrer schlimmsten Zeit war sie bei 1,67 Meter Größe fast 180 Kilogramm schwer. „Ich war kurz davor, in den Rollstuhl zu kommen.“

Nach ihrer Diagnose hat sie mithilfe einer Ernährungsberaterin und Bewegungstherapie inzwischen 45 Kilo verloren. Für eine Liposuktion - operatives Fettabsaugen - lehnte ihre Krankenkasse die Kostenübernahme ab. Nach der Absage sei sie psychisch zusammengebrochen, sagt die 52-Jährige.  

Betroffene bei Kosten nicht allein lassen

Kassen sollten mehr Kosten übernehmen, fordern viele Experten. Das gelte vor allem für Liposuktionen. Die neusten Lipödem-Leitlinien vom Januar 2024 - verfasst von mehreren medizinischen Fachgesellschaften, vor allem Venenfachärzten - empfehlen in schweren Fällen, das krankhaft massiv vermehrte Fettgewebe unter der Haut an Armen und Beinen operativ zu entfernen. Betont wird dabei auch: Die Ergebnisse der Liposuktion seien in frühen Stadien besser. 

Claudia Effertz, die erst nach 15 Jahren die korrekte Diagnose erhalten und bis dahin 70 Kilo zugenommen hatte, kämpfte vier Jahre lang mit Kompressionsbekleidung, Lymphdrainage und viel Bewegung erfolglos gegen das Lipödem. „Ich musste an Gehstöcken laufen, war nur noch zu 40 Prozent arbeitsfähig“, erzählt Effertz. Nach zunächst mehreren Absagen der Krankenkasse wurden die Kosten für OPs an Beinen und Armen übernommen. Es erfolgten sechs Eingriffe, 55 Liter Fett wurden abgesaugt. „Die OPs waren sehr belastend, aber die enorme Erleichterung überwiegt.

Dass diese Eingriffe mit einer Schönheitsoperation verglichen werden, ist falsch und makaber.“ Sie ist beruflich wieder voll einsatzfähig. „Generell die Frauen hängenzulassen, ist schlimm - mit Blick auf den Personalmangel und die oft sehr gute Qualifikation ist es untragbar.“

Eine Liposuktion gehe mit recht wenigen Risiken und Komplikationen einher, sagt Mediziner Hirsch. „Wir haben bislang keine Alternative bei schweren Fällen. Die Frauen profitieren erheblich. Die Operation macht nicht gesund, aber sie hat sehr viele Vorteile.“ Schmerzen und Körperumfang würden deutlich reduziert, ebenso orthopädische Schädigungen oder auch psychische Belastungen. „Je früher operiert wird, desto besser.“

Hirsch kritisiert: „Aktuell ist es ein Riesenproblem mit der Kassenerstattung - ein Kampf für Patientinnen, Ärzte und Krankenhäuser.“ Er hofft, dass eine noch laufende, breit angelegte Studie den hohen Nutzen der OP in schweren Fällen belegt und die Eingriffe dann bald stadienunabhängig pauschale Kassenleistung werden. 

Was übernehmen die Kassen?

Eine Liposuktion wird derzeit in der Regel nur bei Stadium III bezahlt, nach Einzelfallprüfung und befristet noch bis Ende 2024. Beim GKV-Spitzenverband heißt es, die Datenlage sei unklar, es seien inzwischen möglicherweise rund 300.000 Betroffene in Behandlung. Von 2020 bis 2023 wurden demnach für insgesamt 14.180 stationäre oder ambulante (hier nur bis Mitte 2023 gezählt) Eingriffe die Kosten übernommen. Die Voraussetzungen für eine Erstattung lege eine Qualitätssicherungs-Richtlinie fest. Laut LiPöG bezahlen drei Viertel der Frauen ihre Eingriffe selbst, verschulden sich dafür oft. Der Berufsverband der Frauenärzte unterstreicht, Fettabsaugung bei Lipödem sei kein kosmetischer Eingriff, sondern medizinisch notwendig.   

Miriam aus dem Odenwald kämpfte lange um eine Liposuktion. Nach Widerspruch und Einfordern einer persönlichen Begutachtung werden ihr nun zwei Eingriffe bezahlt. Trotz Lipödem-Zunahme von 15 Kilo hat sie noch fast Normalgewicht, aber seit Jahren Schmerzen. Mit Fitnessstudio und Diäten sei der Fettgewebezuwachs nicht rückgängig zu machen, berichtet die 37-Jährige. Für daheim hat sie einen Lymphapparat, eine riesige Sitzhose mit einem Kompressor. „Gegen den Schmerz.“ Sie kann ihre kleine Tochter nicht mehr auf den Schoß nehmen, muss oft alles absagen, hat ohne OP keine Aussicht auf Besserung. „Diese Krankheit ist so zeitintensiv, belastend, der Alltag so schwer zu meistern. Für mich geht es nicht um Optik, ich hoffe auf ein schmerzfreies, normales Leben.“

Tanja Degner hat Humor und Hoffnung nicht verloren, geht es gemeinsam mit einem Kreis von Betroffenen offensiv an: „Wir wollen klarstellen, dass wir krank sind und eine Ent-Stigmatisierung erreichen. Wir brauchen eine bedarfsgerechte Versorgung, mehr kompetente Ärzte, mehr Verständnis. Die Krankheit ist blöd, aber sie darf nicht unser Leben bestimmen.“

© dpa-infocom, dpa:240223-99-93254/3


Von dpa
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