Laut dem aktuellen DAK-Präventionsradar zeigt jede siebte minderjährige Person depressive Symptome, jede dritte fühlt sich einsam. Auch die Ergebnisse der Lancet-Psychiatrie-Kommission zur mentalen Gesundheit Jugendlicher sind „alarmierend“, so Cornelia Metge, Vorstandsmitglied der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin.
Andreas Hillert ist Chefarzt der Schön Klinik Roseneck in Prien. Er sieht bei vielen seiner jungen Patienten eine gewisse Orientierungslosigkeit: 50 Prozent der jugendlichen Patienten antworteten auf die Frage, was sie nach dem Schulabschluss vorhaben, mit „keine Ahnung“. Diese Orientierungslosigkeit dürfte häufig auch ein Ergebnis individualistischer Erziehungsmodelle und Verhaltensweisen der Eltern sein, so der Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin. Etwa wenn man in Familie und Umfeld nach dem Motto „Egal was du tust, Hauptsache du bist glücklich“ lebe, aber die Integration in gesellschaftliche Strukturen vernachlässigt werde.
Ein erfülltes Leben setze aber voraus, dass man individuelle Wünsche und Möglichkeiten mit dem, was in der jeweiligen Gesellschaft gebraucht und bezahlt wird, zu einer tragfähigen Passung bringt.
„Jedem Kind sollte das Werkzeug an die Hand gegeben werden, seine Resilienz zu stärken“, sagt Professor Andreas Hillert. Dabei seien Kooperation zwischen den Hilfesystemen, insbesondere Kita, Schule, Jugendhilfe und Gesundheitswesen gefragt - aber auch die Eltern. Wie macht man Kinder also fit fürs Leben?
Hillert rät Eltern, den Kindern die Bedeutung von Verantwortung und Struktur im Leben zu vermitteln. So schaffen sie ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, sich realistische Ziele zu setzen - und Verantwortung für die eigene Zukunft zu übernehmen.
Konkret bedeute das: Eltern sollten über ihren Beruf und ihre Tätigkeit reden. Und zwar auf erwachsene Art und Weise: „Das heißt, ich meckere nicht nur über meinen Chef und wie schlimm alles ist, sondern ich versuche, dadurch einen Wert zu vermitteln“, so der Psychiater. „Etwa indem man sagt: Ich habe zwar einen stressigen Job, aber in dem Bereich macht er Spaß. Das ist mir wichtig, darum mache ich es.“
In dem Zusammenhang lässt sich auch gleich vermitteln, dass Einsatz sich lohnt. Oder auch sein muss: Ab einem bestimmten Alter sollten Eltern Jugendliche an das Thema heranführen und sagen: „Wenn du dir etwas Besonderes kaufen willst, dann verdienst du bitte selber das Geld“, rät Hillert.
„Eltern müssen Verantwortung in der Elternrolle übernehmen“, sagt Hillert. Das bedeutet: „Ich muss nicht immer gemocht werden.“
Dazu gehöre auch, Differenzen zuzulassen und auszuhalten, an denen Kinder wachsen können: „Eltern tun sich selber kurzfristig einen Gefallen, zu sagen: Ich tue alles für dich, mein Kind. Aber mittel- und langfristig vermeiden Eltern die Konflikte, die nötig sind, um Kindern Orientierung zu geben.“
Alles von den Kindern fernhalten, Unangenehmes für sie regeln - das ist vielleicht gut gemeint, aber Eltern sollten - immer altersgerecht - bestimmte Verantwortungen den Kindern überlassen, so Hillert. Etwa sagen: „Das Problem mit deiner Freundin, mit der du dich gestritten hast: Bitte kläre das selber, du bist jetzt zwölf, da müsst ihr das hinkriegen.“
Auf der anderen Seite empfiehlt er, Kinder in das Leben der Erwachsenen einzubeziehen, „und nicht zu meinen, man muss Kinder schonen und sie irgendwie erst später da heranführen“. Denn: „Wo soll ich als Kind meine Vorbilder sonst herbekommen?“
Smartphones, Computer und Games gehören zu unserem Alltag. Übermäßige Online-Zeit kann jedoch zu sozialer Inkompetenz und Isolation führen, weshalb Eltern hier klare Grenzen setzen sollten. Das ist nicht immer einfach: „Als Erwachsene wissen die Eltern, dass die Mediennutzung limitiert ist. Und wenn der Sohn deswegen schreit, müssen sie das aushalten.“ Das sei durchaus eine schwierige Situation, gerade wenn etwa Klassenkameraden länger und mehr dürfen als das eigene Kind. Hier ist vor allem Vorleben wichtig. Für Eltern heißt das: selbst nicht unbedingt nach der Arbeit noch vier Stunden lang online unterwegs sein.
Und was können Kinder und Jugendliche stattdessen tun? „Mit Freunden treffen und Musik hören, geben viele Jugendliche als Hobbys an“, so Hillert, „aber das sind beides Interessen, die keine verbindliche Verantwortungsübernahme beinhalten.“ Eltern sollten ihre Kinder daher dabei unterstützen, sich verbindlich Aktivitäten im echten Leben zu suchen, Musikunterricht oder Sport etwa. Dabei ist ein gewisses Maß an Konsequenz gefragt: Ein Instrument sollte nicht nur ein halbes Jahr „probiert“, sondern regelmäßig intensiv geübt werden - was absehbar nicht immer Spaß machen wird, sagt Hillert.
Sport hält er für besonders effektiv und empfiehlt unbedingt, Kinder an den Sport heranzuführen. Das könne man auch später im Leben nur bedingt aufholen, denn: „Es ist wichtig, dass Lernerfahrungen über Jahre gemacht werden. Und es ist völlig gleichgültig, ob das Kind Hockey, Fußball oder irgendwas anderes spielt. Denn letztlich geht es um gemeinsame Interessen, verbindliche Interessen in einer Gruppe.“
Solche Aktivitäten helfen Kindern auch dabei, starke soziale Netzwerke aufzubauen. Regelmäßiger Kontakt zu anderen ist wichtig für die psychische Gesundheit und kann die Resilienz der Kinder, also auch ihre Widerstandskraft gegen psychische Erkrankungen, stärken.
Hillert: „Wenn Eltern es versäumen, ihren Kindern einen Rahmen zu geben, in dem sie soziale Kompetenzen trainieren und verbindliche Interessen entwickeln, erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder ihre Identität in einer psychischen Störung und damit der Rolle eines Patienten wiederfinden.“
Es klingt gut gemeint. Doch das Erziehungs-Motto „Mach was du willst, Hauptsache du bist glücklich“ führe Hillert zufolge eher zu Stress und geringerer Belastbarkeit. Das zeigten auch seine Forschungen zu Anfälligkeit und Therapieerfolg in unterschiedlich orientierten Milieus, den sogenannten Sinusmilieus, die die Gesellschaft nicht nach sozioökonomischen Faktoren, sondern nach Wertvorstellungen clustern. Jugendliche aus dem „hedonistischen“ Milieu, in dem eher Spaß im Hier und Jetzt ein Wert sei und vermittelt werde, seien demzufolge in psychiatrischen Einrichtungen überrepräsentiert, so der Mediziner.
Zugleich seien ihre Erfolgsaussichten aber deutlich schlechter als für Jugendliche aus eher traditionellen Milieus, in denen mehr Wert auf berufliche und persönliche Perspektiven gelegt wird. Eltern sollten also nicht weniger Stress, sondern mehr Orientierung ermöglichen.
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