Wie Medizinstudenten die Arbeit auf dem Land kennenlernen | FLZ.de

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Veröffentlicht am 09.01.2023 11:32

Wie Medizinstudenten die Arbeit auf dem Land kennenlernen

Mit dem vorklinischen Wahlpflichtfach „Das volle Leben“ bereitet die Medizinische Fakultät der Universität Tübingen ihre Studierenden auf die Arbeit als Landarzt vor. (Foto: Tom Weller/dpa)
Mit dem vorklinischen Wahlpflichtfach „Das volle Leben“ bereitet die Medizinische Fakultät der Universität Tübingen ihre Studierenden auf die Arbeit als Landarzt vor. (Foto: Tom Weller/dpa)
Mit dem vorklinischen Wahlpflichtfach „Das volle Leben“ bereitet die Medizinische Fakultät der Universität Tübingen ihre Studierenden auf die Arbeit als Landarzt vor. (Foto: Tom Weller/dpa)

Längst ist in zahlreichen Kreisen und Gemeinden Baden-Württembergs der Kampf um Landärzte ausgebrochen. Vor allem Hausärzte fehlen, aber auch Kinderärzte sind vonnöten.

Die Medizinische Fakultät der Universität Tübingen und der Landkreis Calw erprobten jüngst, wie Studierende schon sehr früh und stärker mit einem Arztberuf in Berührung kommen können.

Im Landkreis Calw haben sich zehn Studierende aus dem zweiten und vierten Semester ihres Medizinstudiums eine Woche lang getroffen und dort das vorklinische Wahlpflichtfach „Das volle Leben“ absolviert. Unter Ihnen war Hanna Rathke, die in Tübingen im zweiten Semester Medizin studiert.

Sie weiß schon ganz genau, was sie will. „Ich will nicht in der Stadt leben und später Kinder haben. Deswegen will ich mein Studium und den späteren Berufsort danach ausrichten“, sagt die 20-Jährige aus dem Kreis Böblingen.

Hanna Rathke will ihre Patienten kennen

Von ihrem Einsatz in Calw ist sie begeistert. „Mir ist es wichtig, meine Patienten zu kennen. Das fehlt in der Stadt“, sagt Rathke. Während der Kennenlern-Woche war sie unter anderem in einer Hausarztpraxis, in einem Pflegeheim und einem Hospiz. „Ich habe jetzt einen guten Überblick, welche medizinische Versorgungen es in Calw gibt und konnte mit Patienten und Experten reden.“

Durch den direkten Kontakt und dem Bearbeiten realer Patientenfälle hatten die Studenten auch einen Einblick in die Kommunikation zwischen Ärzten mit anderen Gesundheitsberufen wie zum Beispiel der Pflege und Physiotherapie. „Für uns war es wichtig, die Region mit all ihren verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens von Anfang an mit einzubinden“, sagt Thorsten Doneith, Facharzt für Allgemeinmedizin an der Universität Tübingen.

Ausbildung an Krankheitsbildern, mit normalem Verlauf

Die Studenten sollen nicht nur komplexe Krankheiten im Elfenbeinturm der Kliniken lernen, erklärt die Ärztliche Direktorin und Leiterin des Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung des Universitätsklinikums Tübingen, Stefanie Joos. Auch die Ausbildung an Krankheitsbildern, die nicht so weit fortgeschritten sind und einen normalen Verlauf haben, sei wichtig. Dies sehen die Studenten hauptsächlich in Praxen.

Das vom Wissenschaftsministerium geförderte Modellprojekt des Landes sei ein Puzzlestein. Studien belegten, dass ein „Klebeeffekt“ entsteht, wenn man Studierende in den ländlichen Raum zum Praktikum schickt. „Wenn es uns in einer Region gefällt und wir beispielsweise tolle Ärzte als Rollenmodelle haben, dann kehren wir nach dem Studium eher dorthin zurück.“

Laut dem Sozialministerium waren im Jahr 2022 insgesamt 7053 Ärzte (6565 Vollzeitstellen) in der hausärztlichen Versorgung tätig. Seit dem Jahr 2015 seien 757 Einzelpraxen weggefallen. Die Anzahl der Praxen mit angestellten Ärzten nehme kontinuierlich zu - gegenüber 2015 um rund 60 Prozent. Das Durchschnittsalter der Hausärzte liege im Land bei 56,2 Jahren. Von etwa 7000 Hausärzten sind fast 1400 über 65 Jahre alt und damit jeder fünfte Hausarzt bereits im Rentenalter.

Trend zur Anstellung, Teamarbeit und Teilzeitarbeit

Viele der neueinsteigenden Ärzte wollten anders arbeiten als ihre älteren Kollegen. Es gebe einen Trend zur Anstellung, Teamarbeit und Teilzeitarbeit. „Das unternehmerische Risiko der Übernahme einer Einzelpraxis möchten viele nicht eingehen“, sagt ein Sprecher des Sozialministeriums.

In Calw ist man froh, in das Modellprojekt aufgenommen worden zu sein. Man habe in der stationären Versorgung zwei Kreiskrankenhäuser, die mit der finanziellen Ausstattung kämpften, sagt Frank Wiehe, Erster Landesbeamter im Landkreis Calw. In der ambulanten Versorgung mit seinen Allgemeinmedizinern habe man große Probleme wegen der Altersstruktur. 45 Prozent der Hausärzte seien über 60 Jahre alt. „Der Befund ist klar. In den nächsten 10 bis 15 Jahren werden sehr viele Praxen schließen.

Weitere Modellregionen und Stipendienangebot

Neben der Zusammenarbeit zwischen der Medizinischen Fakultät Tübingen und Calw sind noch weitere Modellregionen in der Umsetzung. So die Fakultät Freiburg mit Tuttlingen, die Fakultät Heidelberg mit Heilbronn und dem Neckar-Odenwald-Kreis, die Fakultät Mannheim mit Crailsheim sowie die Fakultät Ulm mit dem Alb-Donau-Kreis und dem Ostalb-Kreis.

Seit Oktober 2015 läuft im Landkreis Calw außerdem ein Stipendienprogramm für angehende Hausärzte. Medizinstudenten, die nach dem Abschluss ihrer ärztlichen Ausbildung entweder im Kreis tätig werden oder die Weiterbildung zum Facharzt absolvieren, erhalten für die Dauer von maximal sechs Jahren 400 Euro pro Monat.

16 Studenten wurden aufgenommen bisher, 5 haben laut Wiehe das Studium abgeschlossen, 4 davon bleiben in der Gegend. Zielgruppe des Stipendienangebots sind Medizinstudenten im vorklinischen Semester, die an einer deutschen Universität oder in einem Mitgliedsland der EU studieren und die aus dem Landkreis Calw stammen oder einen engen Bezug zum Landkreis Calw haben.

Landarztquote

Ein weiterer Baustein des Landes, um mehr Hausärzte auf dem Land zu gewinnen ist die im Jahr 2021 eingeführte Landarztquote, nach der jährlich 75 Studienplätze der Humanmedizin - unabhängig vom Abiturschnitt - in Baden-Württemberg vergeben werden. Alle Studienplätze wurden nach Auskunft des Sozialministeriums bisher besetzt. Von 150 Studierenden kamen 125 aus Baden-Württemberg.

© dpa-infocom, dpa:230109-99-152502/4


Von dpa
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