Mit Maske und Sonnenbrille kletterte Jungstar Remco Evenepoel am Montagmorgen ins Auto und begab sich „schweren Herzens“ auf die Heimreise gen Belgien. Nicht etwa einer seiner großen Rivalen wie Primoz Roglic oder Geraint Thomas, sondern das Coronavirus hatte dem Straßenrad-Weltmeister das Rosa Trikot beim 106. Giro d'Italia entrissen.
„Welch ein Jammer, aber das Leben geht weiter“, sagte der 23-Jährige. Bis zum ersten Ruhetag hatte er das Rennen mit zwei Zeitfahr-Siegen und vier Tagen als Spitzenreiter dominiert.
Ausgerechnet Evenepoel, der noch vor dem Giro-Auftakt eine Verstärkung der Schutzmaßnahmen angemahnt hatte. Denn längst hat Corona den Radsport wieder im Griff. Sechs Fahrer mussten nach einem positiven Test bereits aufgeben, darunter auch prominente Namen wie der frühere Tour-Zweite Rigoberto Uran (Kolumbien) oder der zweimalige Zeitfahr-Weltmeister Filippo Ganna (Italien).
Am Montag reagierte dann auch die Giro-Organisation und führte die Maskenpflicht wieder ein. „Ja, wir haben die Aufmerksamkeit etwas zu früh aufgegeben. Wir müssen weiterhin wachsam bleiben. Wir werden bereits ab dieser Woche beginnen“, kündigte Giro-Direktor Mauro Vegni in der „Gazzetta dello Sport“ an.
Plötzlich macht das Virus die Gesamtwertung wieder zu einem Roulette-Spiel. Der deutsche Hoffnungsträger Lennard Kämna, der auf den achten Platz vorgerückt ist, will nicht in „Riesenpanik“ verfallen und betonte am Montag: „Ich weiß nicht, ob wir noch irgendetwas groß verändern. Wir haben keine Angst vor Covid. Es ist so, wie es ist. Wir versuchen in unserer Bubble so clean wie möglich zu sein und wir versuchen natürlich, nicht krank zu werden.“
Evenepoels Ausstieg sei alternativlos gewesen, wie Teamchef Patrick Lefevere twitterte: „Man weiß nie, was unter der Haut vorgeht. Kein Risiko.“ Der Radsport-Weltverband UCI hatte zu Saisonbeginn die Corona-Bestimmungen gelockert. Es gibt keine verpflichtenden Tests mehr, stattdessen ist es nun Sache der Teams, wie sie mit dem Virus umgehen. Evenepoel hatte am Sonntag nach seinem Sieg über leichte Erkältungssymptome geklagt.
„Corona hat nicht mehr die volle Kraft wie früher, aber trotzdem...“, sagte der belgische Virologe Marc van Ranst dem Sender Sporza: „Evenepoel hat für seine Gesundheit die richtige Entscheidung getroffen. Außerdem lebt man dort immer noch in einer Gruppe. Man kann dort jeden anstecken, selbst jetzt, wo das Virus weniger stark ist.“
Bereits zu Saisonbeginn hatte Mannschaftsarzt Yvan van Mol die teaminterne Verfahrensweise erklärt: „Wir wissen nicht, welche Konsequenzen dies für ihr Herzsystem hat. Unsere Rolle besteht darin, unsere positiv auf Corona getesteten Fahrer daran zu hindern, weiter an Wettkämpfen teilzunehmen. Wir haben im Nachhinein noch nicht genügend Erkenntnisse, um sicher sein zu können, dass dies keine Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben wird.“
Im Rosa Trikot den Giro zu verlassen, war letztmals vor 24 Jahren „Il Pirata“ Marco Pantani passiert. Damals war für den 2004 gestorbenen Kletterkönig allerdings wegen eines Hämatokritwertes von über 50 Prozent Schluss. Auch Radsport-Legende Edyy Merckx, mit dem Evenepoel in seiner Heimat so oft verglichen wird, musste 1969 wegen einer positiven Dopingprobe als Führender die Italien-Rundfahrt verlassen. Wenig später - Doping galt damals noch eher als Kavaliersdelikt - wurde die Sperre wieder aufgehoben. Kurz darauf gewann Merckx erstmals die Tour de France.
Die Tour könnte nun auch zum neuen Ziel von Evenepoel werden. Ursprünglich wollte der Belgier nach dem Vuelta-Erfolg 2022 und einem erhofften Giro-Triumph in diesem Jahr erst 2024 zum großen Duell mit Superstar Tadej Pogacar in Frankreich antreten. „Wir werden uns etwas Zeit nehmen und dann sehen wir, wann er wieder Rennen fährt“, sagte Teamsprecher Phil Lowe.
In Italien scheint Evenepoel jedenfalls noch nicht sein Glück gefunden zu haben. 2020 erlitt er bei der Lombardei-Rundfahrt nach einem spektakulären Sturz einen Beckenbruch, sein Comeback zehn Monate später beim Giro verlief wenig erfolgreich. Und in diesem Jahr war er vor seinem Corona-Aus bereits zweimal gestürzt, einmal wegen eines Hundes.
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