Sie haben nicht immer jemanden, um etwa über Ärger im Beruf oder anderweitigen Stress zu sprechen. Sie fühlen sich oft im Stich gelassen, allgemein leer, vermissen eine richtig gute Freundin oder einen Freund: Von den Erwachsenen in Deutschland unter 70 fühlt sich ein Viertel auch nach Ende der Corona-Pandemie sehr einsam. Darauf deuten Ergebnisse aus dem „Deutschland-Barometer Depression 2023“ hin, die die Deutsche Stiftung Depressionshilfe und Suizidprävention am Dienstag in Berlin vorstellte.
Die wahrgenommene Einsamkeit wurde dabei anhand mehrerer Kriterien erfasst: Die Befragten sollten etwa sagen, ob sie immer jemanden haben, um alltägliche Probleme zu besprechen. Oder ob ihnen eine richtig gute Freundin oder ein Freund fehlt. „Das ist eine hohe Zahl“, sagte der Vorstandschef der Stiftung, Ulrich Hegerl. Es könne eine Schattenseite unserer sehr individualistisch geprägten Gesellschaft sein. Aber nicht jeder, der sich manchmal einsam fühle, müsse das auch als Warnzeichen für eine Depression werten, stellte er klar. Wenn Einsamkeit - in diesem Jahr das Schwerpunktthema der repräsentativen Befragung - phasenweise auftrete, gehöre es zum Menschsein dazu.
Noch deutlich ausgeprägter als im Bevölkerungsschnitt ist Einsamkeit laut der Studie bei Menschen, die als depressiv diagnostiziert wurden (37 Prozent) oder die sich derzeit in einer depressiven Phase befinden (53 Prozent). „Die Einsamkeit ist eingebaut in die Depression“, sagte Hegerl. Betroffene könnten in schweren Fällen keine Liebe oder Geborgenheit empfinden, dies sei abgeschaltet. Selbst mehrere Sozialkontakte pro Tag könnten an der subjektiven Einsamkeit vieler Menschen mit Depression nichts ändern.
Wenn über mehr als zwei Wochen bestimmte Symptome auftreten, kann das nach Stiftungsangaben ein Hinweis auf eine Depression sein. Maßgeblich sind vor allem gedrückte Stimmung und Interesse- oder Freudlosigkeit, ferner zum Beispiel auch Schlafstörungen, Schuldgefühle und Suizidgedanken.
Einsamkeit wertet die Depressionshilfe als Symptom von Depressionen und weniger als Ursache. Denn ein Großteil der Betroffenen zieht sich zurück. Nicht nur von anderen Menschen, sondern auch von Hobbys und Gewohnheiten. Etwa weil sie krankheitsbedingt oft kraftlos sind, ihre Ruhe wollen oder das Gefühl haben, für andere eine Belastung zu sein, wie die Erhebung zeigt. Dafür wurden knapp 5200 Erwachsene unter 70 Jahren online befragt, darunter Menschen mit und ohne Depression. Gefördert wird die jährliche Studie zu Erfahrungen und Einstellungen zum Thema Depression von der Deutsche Bahn Stiftung.
Im Fall des Betroffenen Ronald aus Leipzig, der in Berlin von seiner Geschichte erzählte, führte der soziale Rückzug in die Obdachlosigkeit. Es habe Jahre gedauert, bis seine Erkrankung dank Hilfestellungen durch ein Jobcenter erkannt und behandelt worden sei. Rückblickend betrachtet habe es frühere Warnzeichen gegeben: keine Erholung durch Urlaub zum Beispiel. „Der Kopf ratterte, ratterte.“ Hinzu kam nach Ronalds Worten das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, nicht verstanden zu werden. „Also gehste jetzt in die Flucht“, beschreibt er sein Denken von früher. „Am besten keinen sehen.“ Heute arbeitet er als Haustechniker in einem soziokulturellen Zentrum, die Kontakte zur Familie habe er wiederaufnehmen können.
Den allermeisten Betroffenen könne man helfen, auch wenn es oft Geduld brauche, sagte Hegerl. Die Möglichkeiten - Medikamente und Psychotherapie - würden aber oft noch unzureichend ausgeschöpft. Gerade wenn es darum geht, Unterstützung zu bekommen, spielen Familie und Freunde eine wichtige Rolle. Dass etwas nicht stimmen könne und professionelle Hilfe nötig sei, hätten ihr erst ihr Mann und ihre Schwester klar gemacht, sagte eine weitere Betroffene namens Laura. Bei einem ersten Termin in einer Ambulanz, bei dem sie sich nur habe informieren wollen, sei direkt eine schwere depressive Episode festgestellt worden. Laura und Ronald betonten unter anderem, dass es wichtig sei, wenn Angehörige keinen Druck aufbauen, sich über die Krankheit informieren und die Dinge nicht persönlich nehmen.
„Das Thema Einsamkeit ist durch die Pandemie sehr stark in den Vordergrund gerückt“, sagte Martin Gibson-Kunze, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Ende 2021 gegründeten Kompetenznetz Einsamkeit, auf dpa-Anfrage. Er verweist auf die Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) mit Befragten aus rund 15 000 Haushalten. Dabei seien die Werte in der Corona-Zeit „explodiert“: von rund 14 Prozent einsamer Bevölkerung in den Jahren 2013 und 2017 auf gut 40 Prozent im Jahr 2021. Jugendliche und junge Erwachsene seien in der Corona-Zeit am stärksten betroffen gewesen, während zuvor vor allem ältere und hochaltrige Menschen als Risikogruppen gegolten hätten. Die SOEP-Ergebnisse und das Depressionsbarometer lassen sich auch wegen unterschiedlicher Methodik nicht direkt vergleichen.
Einsamkeit in ihren verschiedenen Formen und mögliche Gegenmaßnahmen seien in Deutschland relativ wenig erforscht, sagt Gibson-Kunze. „Einsamkeit wird auch nicht von allen Menschen als Problem empfunden.“ Genaue Kriterien, ab wann ein Mensch chronisch einsam ist, fehlten bisher - genau wie Angebote, die explizit gegen Einsamkeit helfen sollen. Andere Länder, wie etwa Großbritannien, seien da schon weiter.
In Deutschland erkrankten jedes Jahr etwa acht Prozent der Bevölkerung an einer behandlungsbedürftigen Depression - Frauen doppelt so häufig wie Männer, sagte Hegerl. Es könne jeden treffen, der eine Veranlagung habe. Meist verlaufe die Krankheit in Episoden. Dass psychische Erkrankungen heute wesentlich häufiger Grund für Frühberentungen sind als noch vor 40 Jahren liege am offeneren Umgang mit dem Thema. Betroffene bekämen heutzutage häufiger Hilfe, was sich auch in gesunkenen Suizidraten widerspiegele.
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