Die deutsche Wirtschaft hat trotz aller Belastungen 2022 erstmals das Vor-Corona-Niveau wieder übertroffen und geht mit etwas Rückenwind in die kommenden Monate. Die lange Zeit befürchtete schwere Winterrezession dürfte ausfallen: Nach drei Wachstumsquartalen in Folge deutet sich für die letzten drei Monate des vergangenen Jahres Stagnation an, wie das Statistische Bundesamt am Freitag anhand einer ersten Schätzung mitteilte.
Für das Gesamtjahr 2022 errechnete die Wiesbadener Behörde anhand vorläufiger Zahlen ein Wirtschaftswachstum von 1,9 Prozent für Europas größte Volkswirtschaft. Das ist zwar weniger als ein Jahr zuvor, als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach dem Corona-Crash um 2,6 Prozent zulegte. Und es ist weniger als erhofft: „Ohne Energiepreisschock und hartnäckige Lieferengpässe wäre ein doppelt so kräftiger Anstieg der Wirtschaftsleistung möglich gewesen“, ordnete der Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft (IfW/Kiel), Stefan Kooths, ein.
Doch die angesichts von Ukraine-Krieg, Rekordinflation und Energiepreisschock lange Zeit düsteren Prognosen erfüllten sich nicht. Im Gegenteil: Im Vergleich zum Jahr 2019, dem Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland, war das BIP 2022 preisbereinigt um 0,7 Prozent höher.
„Die Bundesregierung hat die Rezession abgepfiffen, zumindest fürs Erste“, kommentierte der Chefvolkswirt der Dekabank, Ulrich Kater. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sieht sich bestätigt: „Wir haben durch entschlossenes Handeln im vergangenen Jahr die Krise beherrschbar gemacht. Wir haben in kurzer Zeit Gesetzespakete geschnürt, große Geldmengen mobilisiert, um die Wirtschaft zu stützen und die Verbraucherinnen und Verbraucher zu entlasten.“
Nach ersten Berechnungen des Bundesamtes geht die deutsche Wirtschaft mit einem kleinen Plus ins neue Jahr. Viele Volkswirte schätzen die Aussichten für 2023 inzwischen nicht mehr ganz so trüb ein wie zunächst nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Jüngste Konjunkturprognosen gehen von einem BIP-Rückgang von weniger als einem Prozent 2023 aus. Weil der Staat Privathaushalte und Unternehmen mit Milliardensummen bei den kräftig gestiegenen Kosten für Energie entlastet, erwarten manche Institute sogar ein leichtes Wirtschaftswachstum in Deutschland im laufenden Jahr.
Die Probleme in den weltweiten Lieferketten haben sich zuletzt etwas entspannt, der deutsche Arbeitsmarkt zeigte sich im Jahr 2022 widerstandsfähig. Das spreche dafür, dass sich die deutsche Wirtschaft auch in den nächsten Monaten robust zeigen werde, meint der Chefvolkswirt der VP Bank, Thomas Gitzel. Eine Bürde bleibt aus seiner Sicht teure Energie, was auch milliardenschwerere Preisbremsen für Gas und Strom nicht komplett abfedern. „Und auch die deutlich gestiegenen Lebenshaltungskosten sind eine schwere Last für den privaten Konsum“, erklärte Gitzel mit Blick auf die anhaltend hohe allgemeine Teuerungsrate.
Im vergangenen Jahr war der private Konsum der größte Wachstumstreiber: Die Ausgaben stiegen nach Berechnungen des Bundesamtes kräftig um 4,6 Prozent. Nachholeffekte nach Aufhebung fast aller Corona-Schutzmaßnahmen im Frühjahr 2022 kurbelte die Konsumlust der Menschen trotz der Rekordinflation an. Auch gestiegene Investitionen der Unternehmen in Ausrüstungen wie Maschinen und Fahrzeuge trugen zum Wirtschaftswachstum bei. Der Außenhandel dämpfte hingegen die Entwicklung, weil die Importe stärker stiegen als der Export von Waren und Dienstleistungen „Made in Germany“. Der viele Jahre boomende Bau fiel als Konjunkturstütze aus: Die Bauinvestitionen sanken preisbereinigt um 1,6 Prozent.
Die Lage bleibe angespannt, befand der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Martin Wansleben: „Hohe Energiepreise, Rekordinflation und weltweit belastete konjunkturelle Aussichten bereiten vielen Unternehmen Sorgen.“
Wie schon in der Corona-Krise bemüht sich der Staat mit Milliardenhilfen um Entlastung. Dies dürfte das deutsche Staatsdefizit 2023 wieder nach oben treiben. Auch im abgelaufenen Jahr haben Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen nach Berechnungen des Bundesamtes mehr Geld ausgegeben als eingenommen. Das Minus summierte sich auf 101,6 Milliarden Euro.
Dennoch hielt Deutschland nach zwei Ausreißern in den Corona-Jahren 2020 (4,3 Prozent Defizit) und 2021 (3,7 Prozent Defizit) wieder die europäische Verschuldungsregel ein: Bezogen auf die gesamte Wirtschaftsleistung betrug das Defizit den vorläufigen Berechnungen zufolge im vergangenen Jahr 2,6 Prozent.
Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt den EU-Staaten ein Haushaltsdefizit von höchstens drei Prozent und eine Gesamtverschuldung von höchstens 60 Prozent des nominalen BIP. Wegen teurer Corona-Hilfsprogramme haben die EU-Staaten diese Regeln vorübergehend ausgesetzt. Vorgesehen ist nach derzeitigem Stand, dass der Pakt von 2024 an wieder regulär greift.
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