Mit einem lauten Knall, einer Druckwelle und einer gewaltigen Baustaubwolke ist die Talbrücke Rahmede an der Autobahn 45 von der Bildfläche verschwunden. 150 Kilogramm Sprengladung ließen die Pfeiler kollabieren, die Brücke stürzte herab in ein riesiges Fallbett. Wohl kaum eine Sprengung hat in der letzten Zeit so viel Aufmerksamkeit erregt wie die Aktion am Sonntag um 12.00 Uhr. Der 17.000 Tonnen schwere Koloss aus Beton und Stahl aus den 1960er Jahren ist zum Symbol für die vielerorts marode Verkehrsinfrastruktur geworden - und längst auch zum Politikum.
Auf die Minute genau ging die Autobahnbrücke in Lüdenscheid spektakulär in die Knie. Das bis zu 70 Meter hohe und gut 450 Meter lange Bauwerk an der deutschlandweit wichtigen A45 - sie wird auch „Königin der Autobahnen“ genannt - ist nun Geschichte. Die Brücke ist weg, an der Stelle türmen sich nun Unmengen von Bauschutt auf. Das Problem aber noch da, auch in politischer Hinsicht.
Die einsturzgefährdete Brücke in NRW war am 2. Dezember 2021 gesperrt worden. Eine zentrale Nord-Süd-Achse zwischen Dortmund und Frankfurt ist schon seit 17 Monaten unterbrochen - mit gravierenden Folgen. Lüdenscheid und das angrenzende Gebiet sind von Stauchaos, Lärm, Abgasen, gestörtem Lieferverkehr, Umsatzeinbußen und Fachkräfte-Abwanderung schwer getroffen. Die Industrie befürchtet einen Milliardenschaden.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing dürfte am Sonntag ein schwerer Stein vom Herzen gefallen sein. Für einen schnellstmöglichen Neubau ist die Sprengung extrem wichtig. Ein „Meilenstein“ sei gelungen, lobt der FDP-Minister, der das Spektakel aus einigen hundert Metern Entfernung verfolgt hat. Die schwierige Aktion sei präzise geglückt.
Nun soll mit „maximaler Beschleunigung“ ein Neubau kommen, verspricht Wissing der Region. Zugleich stellt er klar: Weitere rund 4000 Autobahnbrücken müssen bundesweit saniert werden. Rahmede habe gezeigt, wie dramatisch die Folgen sein könnten, wenn nicht rechtzeitig erneuert werde - und das dürfe sich nicht mehr wiederholen. Der Rahmede-Neubau wird vom Bundesverkehrsministerium aktuell als eines der Top-Projekte deutschlandweit eingestuft.
Neben Wissing haben auch NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer (Grüne) und mehrere tausend Menschen die Sprengung vor Ort oder bei einem Public Viewing in der Innenstadt beobachtet. Applaus und Rufe wie „Hammer“ oder „Wahnsinn“ sind zu hören. Viele haben die Druckwelle deutlich gespürt. Minuten nach der Sprengung fallen kleine Baustaubflocken in der Nähe des abgesperrten Areals herab. Ein Geruch wie nach einem Silvesterfeuerwerk breitet sich aus.
Der Mann des Tages ist Michael Schneider, Sprengmeister der Firma Liesegang. Pünktlich um 12.00 Uhr zündet er die Sprengladung mit den Worten „Drei, zwei eins, Zündung“. Rund 20 Minuten später kommt das Entwarnungssignal. Erst jetzt ist die Sprengaktion vollständig beendet. Die Ergebnisse auf der inzwischen bundesweit prominenten Baustelle werden anschließend von seinem Team genau geprüft.
Die Brücke sei „artig“ in ihr Fallbett niedergegangen, alles exakt so abgelaufen wie vorausberechnet, berichtet Schneider erleichtert nach der schwierigen Aktion. Der Abbruch musste „haargenau“ gelingen. Das Areal unter der Brücke ist bebaut, das Bauwerk musste gerade herunterkommen, die Teile durften auch nicht abrutschen. Und das habe tatsächlich alles genau so funktioniert.
Die Rahmede-Brücke sei Sinnbild geworden „für die Infrastruktur-Katastrophe, die wir in Teilen Deutschlands haben und erleben“, unterstreicht Lüdenscheids Bürgermeister Sebastian Wagemeyer (SPD). Es brauche nach dem Abbruch jetzt aber einen wirklich Aufbruch. Auch wenn eine große Etappe geschafft sei, bleibe noch viel anzupacken.
Die Bürgerinitiative A45 Lüdenscheid nennt den Sprengabbruch „ein erstes sichtbares Zeichen des Fortschritts nach 17 Monaten Stillstand“. Von purer Freude könne aber nicht die Rede sein angesichts des weiterhin krankmachenden Transit-Schwerlastverkehrs, kritisiert Sprecher Heiko Schürfel. Die Politik sei aufgefordert, „endlich gemeinsam zu handeln, gesetzliche Grundlagen für weitere schnelle Brückenprojekte zu schaffen und den Bau der neuen Brücke effektiv und zügig voranzutreiben“.
Kurz nach der Vollsperrung Ende 2021 hatte der Bund als Zeitziel ausgegeben, dass der Verkehr in fünf Jahren wieder rollen solle. Später hielt man sich mit Prognosen zurück. Auch der ADAC treibt zur Eile. Eine schnelle Fertigstellung eines Neubaus sei von herausragender Bedeutung.
„Rahmede ist überall. Wer jetzt weitere Autobahnen baut, zieht knappe Fachkräfte bei der überfälligen Sanierung maroder Brücken und Straßen ab und verschärft die Klimaprobleme im Verkehr“, mahnt Greenpeace-Verkehrsexpertin Marissa Reiserer. Allein an der A45 sind 60 Talbrücken zu erneuern. Davon seien sieben Brücken bereits fertig und 15 in der Bauphase, sagte jüngst der Chef der Autobahn GmbH des Bundes, Stephan Krenz. In NRW sind dem Düsseldorfer Ministerium zufolge gut 870 Autobahnbrücken sanierungsreif.
In Lüdenscheid herrscht ausgelassene Partystimmung beim Public Viewing. Weniger heiter dürfte es künftig im NRW-Landtag beim Untersuchungsausschuss zugehen, der gerade erst seine Arbeit begonnen hat. Geklärt werden soll, warum ein vor Jahren schon beschlossener Rahmede-Neubau dann doch verschoben wurde - und wer das politisch zu verantworten hat. Die Opposition will Hendrik Wüst (CDU) ins Visier nehmen, der bis Oktober 2021 Verkehrsminister war, bevor er NRW-Ministerpräsident wurde. Wüst hatte persönliche Versäumnisse verneint.
Am Tag, an dem die Brücke gefallen ist, steht aber das große Aufatmen im Vordergrund. Der Sprengmeister fasst zusammen: „Ich bin einfach nur happy, happy, happy, dass alles genau so gelaufen ist, wie wir es wollten.“
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