Cannabis auf Rezept zu bekommen, habe am Computer nur ein paar Minuten gedauert, erzählt ein Mann aus Berlin. Er habe online bei einer Plattform eine kurze Arztsprechstunde besucht. „Die „Sprechstunde” ging nicht mal fünf Minuten“, erzählt er. „Mir wurden vier Leiden zur Auswahl gegeben und ich habe mich für Rückenschmerzen entschieden und schon hatte ich das Rezept.“
Mit seiner Erfahrung ist der Mann nicht allein. Die Zahl der Verschreibungen von medizinischem Cannabis steigt offensichtlich, das bestätigt auch das Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage. Deutlich wird das an den Importmengen: Nach Zahlen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stieg die Einfuhr von getrockneten Cannabisblüten zu medizinischen Zwecken zuletzt um 40 Prozent: von 8,1 Tonnen im ersten Quartal des Jahres auf 11,7 Tonnen im zweiten Quartal.
Die Möglichkeiten, Cannabis als Medizin zu beziehen - etwa als Blüten, Kapseln oder Cannabis-Extrakte -, gibt es seit 2017 in Deutschland. Im Gesetz ist die Rede von einer Anwendung bei einer „schwerwiegenden Erkrankung“. Laut Ministerium könne es bei einer Schmerztherapie, bei bestimmten chronischen Erkrankungen wie etwa Multipler Sklerose oder bei schwerer Appetitlosigkeit und Übelkeit verschrieben werden.
In den vergangenen Jahren gingen die Einfuhren von medizinischem Cannabis fast stetig nach oben - doch in diesem Jahr war der Sprung besonders gewaltig. Fachleute gehen davon aus, dass das auch mit der Teil-Legalisierung zusammenhängt, welche zur Entstigmatisierung beitrug. Cannabis ist in Deutschland seit April für alle Erwachsenen freigegeben, nicht nur für Schwerkranke.
Aber woher soll das Cannabis kommen? Der Handel mit der Droge ist weiterhin verboten. Der Anbau von bis zu drei Pflanzen zu Hause braucht Platz, Equipment, Wissen und die Möglichkeit, Kinder und Teenager fernzuhalten. Die Anbauvereine durften erst im Juli starten, und nicht überall läuft es rund. In Berlin wurde etwa noch kein Antrag eines Cannabis-Clubs genehmigt. Außerdem braucht so eine Pflanze etwa drei Monate, ehe sie geerntet werden kann.
Der Mann aus Berlin erzählt, warum er vor einigen Wochen das erste Mal bei einer Online-Apotheke bestellte: „Da ich seit meinem 30. Lebensjahr keinen Alkohol mehr trinke, benutze ich Cannabis regelmäßig zum Entspannen und Runterkommen.“ Außerdem sei er Richter. „In meiner Position ist es natürlich nicht optimal, Konsummittel illegal zu beziehen.“ Jetzt medizinisches Cannabis für sich zu bestellen, habe sich „wie ein Rückschritt in Sachen Legalisierung angefühlt“. Er hoffe aber, dass das nur eine Notlösung sei, bis er als Mitglied des Anbauvereins Blatt & Blüte sein Cannabis beziehen könne.
Der Leiter der Bundesopiumstelle, Peter Cremer-Schaeffer, schreibt im „Ärzteblatt“: Eine Auswertung von mehr als 7.000 Cannabis-Rezepten zeige, dass das Cannabis überwiegend an eher junge Männer ging. Außerdem seien mehr als zwei Drittel als Privatrezept ausgestellt worden - um die Kosten von der Krankenkasse mittels eines Kassenrezepts erstattet zu bekommen, müsse man nämlich eine schwere Erkrankung tatsächlich auch vorweisen. Diese Gründe ließen „es möglich erscheinen, dass eine Versorgung mit Cannabisblüten erfolgt, die der Gesetzgeber so nicht bezweckt hat“, schreibt Cremer-Schaeffer.
Die Online-Plattformen, über die Rezepte für Cannabis ausgestellt werden, sind oft speziell darauf ausgerichtet und werben im Internet sehr aktiv für sich. Gegen eine Gebühr stellen sie ein Privatrezept aus. Die Webseiten und die verschreibenden Ärzte haben ihren Sitz oft im Ausland. Auch der Cannabis-Preis ist attraktiv: Die Kosten für Selbstzahler liegen ähnlich wie die Preise auf dem Schwarzmarkt - bei garantierter Qualität.
Die Expertengruppe „Medizinisches Cannabis“ der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) erklärte, diese Webseiten „sprießen aus dem Boden“. Den Ärzten sei es auf den Plattformen kaum möglich, ihren Sorgfaltspflichten nachzukommen. Denn: Cannabis kann unerwünschte Wirkungen haben. „Vor allem Blüten mit hohen THC-Gehalten stellen ein Risiko dar und dürften die Fallzahlen von psychotischen Ereignissen erhöhen – übrigens auch bei Cannabis-gewohnten Konsumenten.“
Tatsächlich liegt der durchschnittliche Gehalt an Tetrahydrocannabinol (THC) heute viel höher als früher. Laut dem Europäischen Drogenbericht verdoppelte sich der THC-Gehalt allein zwischen 2012 und 2022. Der Vergleich zu den 68ern fällt noch viel krasser aus.
Die DPhG-Expertenfachgruppe sagt, es könne nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, „wenn die Verordnung auf Privatrezepten von Konsumenten dazu genutzt wird, sich mit Cannabis zu Genusszwecken zu versorgen“. Die Plattformen wiederum hätten - dieser Eindruck entstehe - nicht das Wohl von Patientinnen und Patienten im Fokus, sondern ihren Gewinn. Die Fachleute fordern unter anderem ein persönliches Arztgespräch für so ein Rezept.
Eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums betont, Cannabis zu medizinischen Zwecken dürfe als Arzneimittel ausschließlich mit einem medizinischen Grund verordnet werden. Das Ministerium werde die Entwicklung der Verordnung „weiterhin aufmerksam beobachten“.
Andreas Peifer von den Cannabis Social Clubs Deutschland hofft, dass sich die Sache durch die Cannabis-Vereine bald von selbst regelt, weil die Menschen das Cannabis dann ordentlich beziehen. Er ist wegen seiner chronischen Schmerzen und psychischen Grunderkrankungen schon seit zweieinhalb Jahren Nutzer von medizinischem Cannabis. „Weil die Rezeptverschreibungen so hochgegangen sind, ist für mich als Patient vieles nicht lieferbar“, erklärt er. Er müsse immer wieder andere Präparate bestellen, mit neuen Wirkungen und Nebenwirkungen.
„Ich kann jeden verstehen, der lieber ein Rezept will, als auf den Schwarzmarkt zu gehen“, sagt er. Doch wer wirklich krank sei, solle sich unbedingt einen Arzt vor Ort suchen, mit dem er die Medikation und die Präparate besprechen könne. Wer hingegen zum Genuss rauchen möchte, solle lieber Mitglied in einem Anbauverein werden. „Damit für uns Patienten die Versorgung gesichert ist.“
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