Die mit Nägeln durchbohrten Hände und Füße sind vor Schmerz noch verzerrter; die eitrigen Geschwüre, die den Leib des toten Jesus bedecken, treten noch deutlicher hervor.
Nach Ende der mehrjährigen Restaurierung des berühmten Isenheimer Altars im Unterlinden-Museum in Colmar wird das dargestellte Leiden des gekreuzigten Jesus wieder in seinen grausamen Details zur Schau gestellt. Das Museum feiert den Abschluss einer Restaurierung, die ungewöhnlich aufwendig war - und Ungewöhnliches zutage gefördert hat.
Der Isenheimer Altar gilt als eines der bedeutendsten Werke der Sakralkunst, das einen neuen Ausdruck für das Leiden Jesu gefunden hat. Die Kreuzigungsszene war in mittelalterlichen Andachtsbildern zwar ein zentrales Bildmotiv, doch die Abbildung des Ausnahmekünstlers Matthias Grünewald (1470-1528) rückte das Leiden auf ganz neue Weise in den Vordergrund. Im Gegensatz zu vorangegangenen Darstellungen ist Jesus hier kein Sieger über den Tod, der aufrecht am Kreuz hängt, oder ein triumphierender Erlöser von den Sünden der Menschheit. Er ist kein Sterbender, sondern ein Leidender.
Grünewald stellt die Kreuzigung so grausam dar wie niemand vor ihm: Der große Nagel, mit dem die Füße am Kreuz befestigt sind, zerreißt das Spannfleisch, das Haupt ist durch die riesige Dornenkrone voller Blut, der Mund blau angelaufen. Sein Leib ist von Stacheln und eitrigen Geschwüren übersät. Das Bild schockierte.
Der Wandelaltar ist zwischen 1512 und 1516 entstanden und besteht aus elf Bildteilen und einem Mittelschrein voller Skulpturen. Die Bildtafeln sind von Grünewald, die Holzskulpturen von Niklaus von Hagenau.
Die zu Ende gegangene Restaurierung ist nicht das erste Lifting des Isenheimer Altars, der so heißt, weil er für das ehemalige Antoniterkloster in dem Ort Issenheim südlich von Colmar geschaffen wurde. Doch zum ersten Mal wurde der Altar nun mit den modernsten Techniken gereinigt, studiert und analysiert. Und das nach heftigen Einwänden, als im Juli 2011 die ersten Eingriffe auf der rechten Außentafel mit der Versuchung des heiligen Antonius vorgenommen wurden. Kritiker, darunter Didier Rykner, warfen dem damaligen Team vor, mit überholten Methoden vorzugehen, die die Malschicht gefährden könnten. Daraufhin wurde die Restaurierung gestoppt und 2018 wieder fortgesetzt – mit modernsten Mitteln.
Dazu gehörten Röntgenaufnahmen, Pigment- und Schichtanalysen, Verfahren, die Infrarotstrahlung nutzten oder Laser. Sogar Eye-Tracking kam zum Einsatz, um das durch die Veränderung der Restaurierung ausgelöste Betrachtungsverhalten der Besucher und Besucherinnen zu beobachten. Die Erfrischungskur fand vor den Augen des Publikums statt.
Viele neue Erkenntnisse wurden während der Restaurierung gemacht. So kam die im 18. Jahrhundert übermalte originale Farbgestaltung der Skulpturen zum Vorschein, ebenso Nuancierungen in der Malschicht der Tafelbilder. Nun ist der geschnitzte Sockel des heiligen Antonius nicht mehr rosafarben, sondern malachitgrün. Das Grauen der Kreuzigungsszene wird nicht mehr von einer pechschwarzen Nacht umhüllt, sondern von einem nachtblauen Himmel mit grauen und schwarzen Wolken.
Für Pantxika De Paepe, die Direktorin des Museums, lässt dies eine neue Interpretation zu. Das sei wie ein Hoffnungsschimmer in dunkelster Nacht, sagte sie. Eine Auslegung, die zur Geschichte des Altars passt. Denn vor den Altar des einstigen Klosters wurden in der Hoffnung auf Heilung vor allem Menschen gebracht, die am „Antoniusfeuer“ litten - einer Mutterkornvergiftung, die zum Absterben von Gewebe führen kann. Sie zählte zu einer der gefürchtetsten Epidemien des Mittelalters.
Schon vorher war das Unterlinden-Museum eins der meistbesuchten Kunstmuseen in Frankreich. Auf seinem berühmtesten Werk können Besucherinnen und Besucher jetzt Dinge sehen, die jahrhundertelang verborgen waren. Neue farbliche Eindrücke lassen inhaltliche Rückschlüsse über die Zeit der Entstehung des Kunstwerks zu. Zu den vielen Details, die auf diesem wichtigen Werk der Kunstgeschichte nun neu zu entdecken sind, gehört auch dieses: eine Träne, die sich plötzlich auf der Wange der Mutter Christi erahnen lässt.
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