Der Jakobsweg ist anders. Seine Individualität unterscheidet ihn von den übrigen Pilgerwegen.
„Man kann ihn gestalten wie man möchte - und auch nur eine Woche entlanglaufen. Das macht unter anderem seine Attraktivität aus“, sagt Prof. Klaus Herbers, der Präsident der deutschen St. Jakobus-Gesellschaft.
Nach zögerlichen Anfängen in der Franco-Diktatur erlebte der klassische Jakobsweg durch Nordspanien, der Camino Francés, in den 90er Jahren wieder einen Boom. Noch mehr Zulauf erhielt er 2006 durch Hape Kerkelings Pilger-Bestseller „Ich bin dann mal weg“.
Nach einem Corona-bedingten Einbruch waren die Deutschen im vergangenen Hochsommer in Santiago de Compostela laut Herbers wieder drittstärkste Pilger-Nation. Doch eines hat sich in den Jahrzehnten verändert: die zurückgelegte Strecke der Wanderer.
Das Jakobswege-Netz ist groß, viele Routen führen aus Mitteleuropa Richtung Santiago. „Von Deutschland aus sind es - je nachdem, wo man anfängt - nach Santiago gut 2000 Kilometer“, sagt Herbers. Ein guter Läufer braucht dafür drei bis vier Monate. Manche möchten aber „nur“ die letzten 100 Kilometer meistern und dafür die Urkunde des Pilgerbüros erhalten.
Wo eine Pilgerreise anfängt, ist eigentlich immer individuell gewesen. „Die Vorstellung eines Startpunkts ist erst in den 1980er Jahren entstanden“, erklärt Christian Kurrat, Pilgerforscher von der Fern-Universität in Hagen. „Ursprünglich gab es keinen Anfangspunkt.“ Der Weg zum Grab des Apostels Jakobus habe zu Hause begonnen. „Und natürlich musste man dorthin wieder zurücklaufen.“
Viele Gruppen pilgern ein bis zwei Wochen, setzen aber in den folgenden Jahren immer dort an, wo sie davor aufgehört haben. Am Ende schaffen sie auf diese Weise den gesamten Weg. Auch Klaus Herbers hat mit dem „Stückeln“ Erfahrung: „Ich kann das nur empfehlen, wenn man nicht die Zeit hat, den gesamten Weg in einem Zug zu pilgern.“
Warum das Aufteilen beliebt ist, dazu gibt es keine empirischen Daten. Pilgerforscher Kurrat vermutet einfache Gründe: verfügbare Zeit, körperliche Fähigkeiten und traditionelle Gepflogenheiten.
Traditionell verbindet man mit Pilgerfahrten Sündenvergebung und Buße. Und derzeit sind laut Herbers die Beichtgespräche in Santiago de Compostela sehr frequentiert.
Doch anders als bei den katholischen Wallfahrten wie etwa nach Altötting in Oberbayern, wo man in Prozessionen hingeht, kann man auf dem Jakobsweg das Alleinsein finden. Und der Weg gilt als unabhängig von der kirchlichen Institution. Herbers: „Die Kritik an der Kirche und die vielen Austritte haben dem Weg nicht geschadet.“
Mit diesem Pilgern sei oft eine Vorstellung verbunden, die über Bücher, Filme oder Freunde tradiert wird, sagt Christian Kurrat. Es geht um Entschleunigung, Gemeinschaft, Ursprünglichkeit, Naturerfahrung, Auszeit und Sinnstiftung.
Pilgern ist Kurrat zufolge mit einer symbolischen Bedeutung aufgeladen, denn bei vielen hat es eine nachhaltige Veränderung im Leben ausgelöst. „Für Menschen in Krisen- und Umbruchsituationen ist der Jakobsweg eine beliebte Option.“
Doch je kürzer man ihn läuft, desto geringer ist womöglich die Chance, einen spirituellen Tiefgang zu spüren. Der Weg wird so oft eher zum sportlichen Ereignis. „Aber“, so Klaus Herbers, „vielleicht kann man, wenn man auch nur eine Woche unterwegs ist, auch solche Erlebnisse haben.“
Es finden sich Belege, dass die Länge des Weges einen Einfluss auf die Erfahrung hat. „In der Forschung gibt es viele Berichte, dass bei einer mehrwöchigen Reise die außeralltägliche Erfahrung des Pilgerns zu einer neuen, kontrastiven Perspektive auf die alltägliche Lebenswelt zu Hause geführt hat“, erklärt Kurrat.
Einfacher gesagt: Das Leben daheim wird also mit anderen Augen gesehen. „Entscheidend scheint hier die Gemeinschaft zu sein, die sich über mehrere Wochen formt und steigert.“
Eine generelle Längenempfehlung gibt es aber nicht, sagt Kurrat. Und auch die Kirche schreibt nichts vor.
© dpa-infocom, dpa:230316-99-978690/2