„Ich warte sehnlichst auf seine Rückkehr“, sagt Dolors mit fester Stimme. Carles Puigdemont heißt der Mann, für den das politische Herz der Rentnerin schlägt. Und auch das Herz vieler anderer Menschen in Katalonien.
Vor der Parlamentswahl am Sonntag in der spanischen Region steht Junts, die Partei des im Herbst 2017 ins Exil nach Belgien geflüchteten Separatistenführers in allen Umfragen auf Rang zwei. Der Spitzenkandidat und ehemalige Regionalpräsident macht sich sogar noch Hoffnungen auf den Sieg. „Die Zeit der Rückkehr ist gekommen“, rief er zum Abschluss des Wahlkampfes am Freitagabend. „Liebe Herren in Madrid, bereiten sie sich vor. Wir kommen!“ Das sind keine leeren Worte. Auch als Zweitplatzierter dürfte er sich aufgrund der erwarteten Konstellation Chancen ausrechnen, als Regierungschef wieder in den Palau de la Generalitat in Barcelona einzuziehen.
Wenngleich das mit dem Einzug nicht so einfach wäre: Bei einer Einreise nach Spanien würde der 61-Jährige sofort verhaftet werden. Der Grund für das absurde Szenario: Der gelernte Journalist und Vater zweier Mädchen ist seit dem gescheiterten Abspaltungsversuch und seiner Nacht- und Nebelflucht vor sechseinhalb Jahren angeblich im Kofferraum eines Autos ein Flüchtling der spanischen Justiz. Erst Ende Februar leitete der Oberste Gerichtshof in Madrid gegen den EU-Abgeordneten sogar ein Strafverfahren wegen Terrorismus ein.
Die linke Zentralregierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez, für die die Unterstützung der Separatisten im Parlament in Madrid überlebenswichtig ist, hat zwar allen „Catalanistas“, die im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitsbestrebungen mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, eine Amnestie zugesichert. Das Gesetz, das von der konservativen Opposition scharf kritisiert wird, hat jedoch bisher nicht alle parlamentarischen Hürden überwunden. So schnell wird es nicht in Kraft treten. Puigdemont will trotzdem nach der Wahl zurück nach Hause. Spätestens, wenn das Regionalparlament über den neuen Regierungschef abstimmt. „Ich habe keine Angst vor einer Festnahme, muss aber damit rechnen“, sagte er dieser Tage.
Seine Wahlkampfveranstaltungen hielt der umstrittene und eigentlich totgesagte Kandidat im französischen Argèles-sur-Mer nahe der Grenze zu Katalonien ab. Die rund 1500 Zuschauer fassende Gemeindehalle war dem Anhänger-Zustrom nicht gewachsen. An manchen Tagen mussten bis zu 1500 Menschen draußen bleiben. Die Zeitung „El Mundo“ bezeichnete die Versammlungen als „messianische Pilgerfahrten“, während das Blatt „ABC“ eine „Wiedergeburt des geflohenen Präsidenten“ sah. Lehrerin Lucía aus Tarragona legte an einem Tag etwa 600 Kilometer hin und zurück, um dabei zu sein. „Er wird unsere Ehre wiederherstellen“, sagte sie. Für ein Foto mit Puigdemont stand sie eineinhalb Stunden an.
Gebannt hören seine Unterstützer von ihrem „President“ Aussagen wie „Die Zeit der Unterdrückung wird bald vorbei sein“ oder „Wir stehen an einem historischen Scheideweg“. Unter lautem Jubel seiner Anhänger rief er: „Sie wollten den Präsidenten der Generalitat ins Gefängnis stecken. Und jetzt bin ich hier bei euch, wenige Wochen vor meiner Rückkehr, ohne mich bei irgendeinem spanischen Richter entschuldigen zu müssen. Hoch lebe das freie Katalonien!“
Unter Puigdemonts Ägide war Katalonien nach einem illegalen Unabhängigkeitsreferendum und einem anschließenden Beschluss zur Abspaltung von Spanien 2017 ins Chaos gestürzt. Die damalige konservative Zentralregierung setzte die Region unter Zwangsverwaltung. Puigdemont floh mit weiteren Regierungsmitgliedern. Mehrere der im Land gebliebenen Mitstreiter wurden zu Haftstrafen von bis zu 13 Jahren verurteilt, inzwischen aber begnadigt. Unter den Folgen des Trennungsversuches - darunter politische Instabilität sowie eine Unternehmens- und Kapitalflucht - leidet die Region noch heute.
Puigdemont hat trotzdem in Katalonien viele Anhänger. Vor allem in der Region Girona mit der gleichnamigen Provinzhauptstadt - einer echten Separatisten-Hochburg, in der die Familie von Dolors zu Hause ist - leben viele. Die Rentnerin wählt eher links, hält aber große Stücke auf den konservativ-liberalen Politiker. „Puigdemont hat unser Anliegen auf der ganzen Welt bekannt gemacht.“ In der 100 000-Einwohner-Gemeinde sprechen bis auf die vielen Touristen alle Katalanisch, selbst wenn man sie auf Spanisch anspricht.
Es gehe ums Überleben der katalanischen Sprache und Kultur, meint Dolors. „Wir mögen es nicht, wenn man uns von außen etwas aufzwingt“, sagt sie der Deutschen Presse-Agentur. „Wenn ich in Deutschland bin, muss ich doch auch Deutsch sprechen.“ Enkelin Lola darf noch nicht wählen, teilt aber die Begeisterung ihrer Oma für diese Causa. „Katalonien gehört nicht zu Spanien, nicht hier“, sagt sie, und klopft sich dabei mit der Hand aufs Herz.
Wenn man in Girona und der Nachbargemeinde Figueres die Menschen auf der Straße fragt, hört man meistens ähnliche Sätze. „Wir sind Katalonien, haben mit Spanien nichts gemein“, behauptet Rentner Jordi. Architerkturstudent Marc und Freundin Laia sagen unisono: „Es geht um das Recht auf Selbstbestimmung“. „Wir wollen selbst darüber entscheiden, wie wir leben möchten.“ In Barcelona gehen die Meinungen dagegen eher auseinander.
Doch wie wahrscheinlich ist es, dass Puigdemont an die Macht kommt? Den Umfragen zufolge wird die Sozialistische Partei von Sánchez mit ihrem Spitzenkandidaten Salvador Illa mit rund 40 Abgeordneten gewinnen, die absolute Mehrheit von 68 Sitzen aber deutlich verpassen. Gleichzeitig ist es aber fraglich, ob die verschiedenen separatistischen Parteien zusammen diese Zahl erreichen. Und offen ist auch, ob die separatistische Republikanische Linke (ERC) des pragmatischen Noch-Regionalpräsidenten Pere Aragonès, die abgeschlagen auf Platz drei abzustürzen droht, eher Illa oder Puigdemont unterstützen wird.
In Madrid munkelt man derweil, Sánchez werde Illa möglicherweise auch bei einem klaren Triumph anweisen, zugunsten der Separatisten auf das Amt des Regionalpräsidenten zu verzichten, um diese bei Laune zu halten. Das glaubt auch die einflussreiche konservative Regionalpräsidentin der Region Madrid, Isabel Díaz Ayuso. Sie wirft Sánchez und Illa vor, sie würden Katalonien „den Banditen, Totalitären und Korrupten überlassen“.
Sánchez' Appeasement-Politik macht vielen Angst, anderen dafür bereitet sie Freude. Der Sozialist werde das von den Separatisten geforderte Referendum über eine Unabhängigkeit Kataloniens zulassen, sagte Junts-Sprecher Josep Rius diese Woche im Radiointerview voraus. „Noch bestreitet Sánchez das, aber er hat ja auch lange die Amnestie zurückgewiesen.“
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