Ist es eine Aktion des berühmten Graffiti-Künstlers Banksy? Ist es ein politisches Statement? Oder darf es als eine moderne Form der Schnitzeljagd verstanden werden? Mailach rätselt.
Rund um den verlassenen Sichartshof ereigneten sich jüngst unerklärliche Phänomene: In einer Wiese tauchte quasi über Nacht ein sogenannter QR-Code auf, der die Welt grüßt; einige hundert Meter entfernt gestalteten Unbekannte eine leer stehende Hütte am Waldrand in einer Nacht-und-Nebel-Guerilla-Aktion zu einem anarchischen Kunst-Atelier um.
Es wirkt wie der Beginn eines Horrorfilms. Verlassen, mitten im Nirgendwo, steht sie am Waldrand: eine Hütte. Jahrelang hatte sich wohl niemand um sie gekümmert. Doch jetzt rückt das Häuschen auf den Anhöhen des Lonnerstädter Gemeindeteiles Mailach – mit Blick auf das benachbarte Uehlfeld – in den Fokus einiger Abenteuerlustiger. Denn wie von Geisterhand verwandelte sich die abbruchreife Hütte in ein Paradies für Freunde der Graffiti-Kunst.
Fährt man den Berg hinauf, wirkt das Häuschen völlig unauffällig: schlechter baulicher Zustand, eingewachsen, auf der Seite linst der blanke Beton durch, ein vertrocknetes Maisfeld daneben. Doch ein Blick um die Ecke lässt die verlassene Hütte völlig anders wirken: Denn plötzlich starren einen zwei überdimensionale Augen direkt an, tiefblaue Augen auf schwarzem Untergrund. Meisterhaft. Doch die beeindruckenden Glubscher sind nur der Anfang einer anarchistisch-verschrobenen Reise in eine Art künstlerische Parallelwelt.
In der Hütte wird es düster, einzelne Sonnenstrahlen fallen durch die lädierten Fensterläden und scheinen den Staub, der wie eine Wand im Raum steht, zu durchschneiden. Auf den Boden sind Zahlen gesprüht, Koordinaten. Doch längst haben Farbkleckse das Graffito überdeckt. An der Wand hängen Bilder – Farbspritzer auf Leinwand. Echte Kunst, die keineswegs dilettantisch wirkt – hier waren Profis am Werk. Darunter lehnt ein Klappstuhl an der Wand, eine Maske starrt den Besucher an, das Erkennungszeichen des Kollektivs „Anonymous“. Vor Kurzem galten Hacker noch als aus dem Untergrund agierende Computerverbrecher oder alternativ als kindische Kleinkriminelle. Doch dank dem Anonymus-Kollektiv werden sie längst als politische Aktivisten respektiert – wenn nicht sogar gefürchtet. Eine politische Botschaft also?
Im Hauptraum stehen Werkzeug, Sprühdosen und Bierflaschen herum. An der Wand lässt sich banksy-artige Kunst bestaunen – ein Mädchen, das Greta Thunberg ähnelt, in Gebetshaltung und ein nackter Mensch in Tanzpose. Auch eine optische Täuschung und eine übergroße Hand samt Joker-Spielkarte in Kreditkartenform wurden auf das Gemäuer gepinselt – die Darstellungen bieten Raum für Interpretationen. Beim Weg zurück ans Tageslicht wird es interaktiv: „Ihre Meinung zu Vandalismus:“ ist auf die Wand gesprayt, darunter findet sich Platz für Notizen. Verewigt hat sich dort noch niemand. Auf einem Balken daneben steht „It’s a trap“ („Es ist eine Falle“). Alles mysteriös in dieser künstlerischen Geisterhütte.
Auch in Mailach kann sich niemand so recht einen Reim darauf machen. Dass interessierte Bürger oder Pressevertreter sich bei ihr erkundigen, das ist Bürgermeisterin Regina Bruckmann mittlerweile gewohnt – das Mailacher Mysterium versuchen so einige zu klären. Doch des Rätsels Lösung hat auch Bruckmann nicht parat – dafür hat sie einen klitzekleinen Hinweis auf den oder die Künstler entdeckt. „Hidden Gallery“ („Versteckte Galerie“) ist auf eine Sitzbank gesprüht. Hidden Gallery, dabei handelt es sich um Ateliers in den britischen Städten Bristol und Brighton. Wofür diese Galerien bekannt sind? Für Banksy-Werke. London, Venedig, Lonnerstadt: Ist es eine Guerilla-Aktion des einen Banksy, der weltweit mit seinen Werken für Furore sorgt? Diese These ist zugegeben unwahrscheinlich. Aber ist sie ausgeschlossen?
Doch zurück in die Hütte. Auf dem Weg ans Tageslicht passiert der Gast QR-Codes – verschnörkelte Pixel, die mit dem Smartphone ausgelesen werden. Neben kultur- und gesellschaftsphilosophischen Thesen bekennen sich die Unbekannten in ihren Botschaften auch zu Suchtmitteln, egal ob in pflanzlicher Form und rauchbar oder flüssig und trinkbar: „Ich mag Bier“, „Ich mag Gras“, „Es ist nicht automatisch Kultur, nur weil es langweilt“, „Mit dem Kopf durch die Wand in einer Welt ohne Türen“ oder „Hinterfrage dein Gehinterfrage“. Philosophie und Provokation.
Das QR-Code-Mysterium setzt sich allerdings noch fort, nur einige hundert Meter von besagtem Häuschen entfernt, am Sichartshof. Der existiert längst nicht mehr, nur Schilder und ein Brunnen erinnern noch an die Vergangenheit. In einer nahe gelegenen Wiese wirkt allerdings ein Fleckchen Erde umgegraben, das Gras ist niedergetrampelt, Fahrzeugspuren sind zu erahnen, am Feldrand liegt Erdaushub. Dieses Rätsel beschäftigt auch den Mailacher Alexander Berlet, vor Wochen erzählten ihm Freunde davon. „Das schaute wie eine Ausgrabung aus.“ Berlet erkennt Grundrisse, kommt ins Grübeln – ihn packt die Faszination. Er klettert auf einen Jägersitz, zeichnet die Muster maßstabsgetreu auf ein Blatt Papier – und seine Vermutung wird bestätigt: „Es war ein QR-Code.“ Er scannt ihn – und wird begrüßt: „Hello World“ („Hallo Welt“). Außerirdisches Leben also?
Während die einen die Faszination packt, ist der Wiesenbesitzer „not amused“ („nicht begeistert“), wie die Queen sagen würde. Er erstattet Anzeige gegen Unbekannt. Unbekannt bleibt auch weiterhin der Künstler.
England hat Kornkreise und Stonehenge, Peru die Nazca-Wüstenlinien – und Mailach eben seltsame QR-Codes. Welch illustre Reihe.
Johannes Zimmermann