Ein halbes Jahr nach der Abkehr von ihrer großen Leidenschaft Leichtathletik wirkt Louisa Grauvogel innerlich aufgeräumt und erleichtert zugleich. „Es gab für mich einfach keinen Kompromiss mehr“, sagte die 27 Jahre alte Saarländerin der Deutschen Presse-Agentur. Ende Oktober 2022 hatte Grauvogel überraschend das Ende ihrer Karriere als Leistungssportlerin erklärt. Sie konnte ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden.
Grauvogel galt als eine der besten deutschen Mehrkämpferinnen und Hürdenläuferinnen. Olympia war ihr großes Ziel. Nebenbei studiert sie Biochemie in Köln, macht ihren Bachelor. Irgendwann wird ihr das alles zu viel - Grauvogel erleidet einen Hörsturz und einen Zusammenbruch. Für sie letztlich der Anfang vom Ende vom Leistungssport. „Ich habe gemerkt, dass ich in den Sport extrem viel reinvestiere aber nicht wirklich was rausbekomme. Das habe ich mir lange überlegt und ich habe die Entscheidung nie bereut“, sagt sie heute. Der Schritt war für sie nach Gesprächen mit ihrem Psychotherapeuten und ihren Eltern letztlich alternativlos.
In der Anfang April veröffentlichten ARD-Dokumentation „Echtes Leben: Burnout einer Leistungssportlerin“ arbeitet Grauvogel alles noch einmal auf. „In meiner schlimmen Phase hätte mich das bestimmt noch mal voll aus der Bahn geworfen“, erzählt sie: „Aber mit einem gewissen Abstand fand ich das total erfrischend und es tat mir auch gut, das öffentlich zu machen.“ Sie möchte damit auch ein Zeichen setzen: „Um auch andere für dieses Thema zu sensibilisieren - nicht nur was den Leistungssport angeht.“
Mit US-Turnstar Simone Biles, Tennis-Ass Naomi Osaka aus Japan oder Radstar Marcel Kittel machten zuletzt auch Topstars psychische oder mentale Probleme publik. Schwimmstar und Rekord-Olympionike Michael Phelps bekannte, dass er nach Olympia 2012 an Depressionen erkrankte und Selbstmordgedanken hatte. Seitdem setzt sich der heute 37-Jährige mit seiner Stiftung für die mentale Gesundheit von Athleten ein.
Zuletzt erklärte der dreimalige Schwimm-Olympiasieger Adam Peaty seinen Verzicht auf die WM Ende Juli. Er habe „in den letzten Jahren mit meiner psychischen Gesundheit zu kämpfen gehabt“ und „denke, es ist wichtig, ehrlich damit umzugehen“, schrieb der 28 Jahre alte Brite auf Instagram.
Auch Ex-Schwimmerin Petra Dallmann begrüßt es, dass immer mehr Leistungssportler mit ihren psychischen Problemen an die Öffentlichkeit treten. „Damit können Sportler einen enormen Beitrag leisten, dass psychische Erkrankungen entstigmatisiert werden. Wenn ein bekannter Sportler über Depressionen oder Burn-out spricht, findet das oft mehr Gehör als die ein oder andere Pressemitteilung eines Arbeitskreises für Entstigmatisierung“, sagt die 44-Jährige.
Im Jahr 2001 gewann Dallmann mit der Freistil-Staffel den WM-Titel, 2004 mit der 4x200-Meter-Staffel Olympia-Bronze in Athen. Heute arbeitet sie als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Einmal in der Woche ist sie am Olympiastützpunkt (OSP) in Heidelberg als Sportpsychiaterin und Sportpsychotherapeutin.
Per se Sportlern zu einem „Outing“ raten will Dallmann allerdings nicht. „Jeder hat auch seine Motive, warum er sich „outet“ - und die sind sehr unterschiedlich. Letztlich gibt es auch Sportler, die sagen, „für mich hätte das negative Konsequenzen“. Daher ist das etwas, was ich niemanden vorbehaltlos raten würde“, sagt sie. Dies bestätigt auch Grauvogel: „In meiner aktiven Zeit habe ich mich das nie getraut. Man weiß halt nicht, was man damit anstößt.“
An jedem OSP in Deutschland sind Sportpsychologinnen und Sportpsychologen, die den Athleten zur Seite stehen. Oft suchen die Sportler Hilfe in Situationen, in denen sie sich überfordert fühlen. Doch es gibt Grenzen. „Wenn ein Fall in den klinischen Bereich rutscht, dann muss ich ihn an einen Therapeuten weitergeben“, sagt Annika Weinkopf, Kooperationspartnerin des OSP Hamburg/Schleswig-Holstein. Als Sportpsychologin darf sie nicht therapeutisch tätig werden. „Die Hemmschwelle zu einer Therapeutin oder einem Therapeuten zu gehen, ist noch hoch“, sagt die 30-Jährige.
Auch Ex-Radprofi Dominik Nerz machte erst nach Ende seiner Karriere in dem 2019 erschienen Buch „Gestürzt: Eine Geschichte aus dem Radsport“ Magersucht und depressive Episoden öffentlich. 2016 hatte Nerz psychisch und physisch vollkommen entkräftet seinen Rücktritt erklärt. Auf 58 Kilo bei einer Körpergröße von 1,80 Meter hatte er sich zeitweise runtergehungert. 2015 war er von seinem Bora-Team mit dem Ziel Top-10 als Kapitän für die Tour de France nominiert worden. Diese musste er nach mehreren Stürzen jedoch aufgeben.
„Es war damals sehr schwer für mich, Entscheidungen zu treffen, weil ich an vielen Fronten Probleme hatte. Ich bin nie an den Punkt gekommen, mir während meiner Laufbahn eine Auszeit oder therapeutische Hilfe zu nehmen“, sagt er rückblickend. Sechs Wochen befand sich Nerz nach dem Karriereende in einer psychiatrischen Klinik.
Ironie des Schicksals: Ausgerechnet der ehemals magersüchtige Radprofi ist mittlerweile Koch und betrieb bis vor wenigen Monaten ein eigenes Restaurant in Österreich. „Ich bin absolut pro jeglicher Unterstützung, was die mentale und psychologische Unterstützung im Profisport angeht. Das ist ganz wichtig“, sagt Nerz heute.
„Es fällt den Sportlern auf alle Fälle leichter darüber zu reden, wenn auch das Umfeld sensibilisierter ist. Ich habe das Gefühl, dass die neue Trainergeneration Themen wie Depressionen, Burn-out oder Essstörungen mehr auf dem Schirm hat, auch durch mehr Fortbildungen zu diesen Themen“, meint Dallmann.
Auch Fußballprofi Timo Baumgartl von Bundesligist Union Berlin hat sich psychologische Unterstützung geholt. Und das schon bevor bei dem 27-Jährigen im Mai 2022 Hodenkrebs diagnostiziert wurde. „Ich bin schon vorher zur Therapie gegangen, weil ich für mich gesagt habe: Das ganze Fußballsystem mit dem Druck und den Erwartungen - das kann nicht gesund sein für einen Menschen. Jeder, der zur Therapie geht, darf stolz auf sich sein!“, sagte er im Podcast „Vom Feeling her ein gutes Gefühl“.
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