Armutsbekämpfung, Klimakrise, Taurus-Marschflugkörper: Das sind Themen, mit denen sich Kanzler Olaf Scholz in den letzten drei Tagen bei hochsommerlichen Temperaturen beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro beschäftigt hat. Um 10.34 Uhr landete er bei zwei Grad wieder in Berlin. Ab jetzt gibt es für ihn zunächst nur noch eins: die Kanzlerkandidatur der SPD.
Scholz hatte sich bereits im Juli auf seiner traditionellen Sommerpressekonferenz quasi selbst zum Kanzlerkandidaten gekürt. „Ich werde als Kanzler antreten, erneut Kanzler zu werden“, sagte er damals. Nun ist aber seine Ampel-Regierung zerbrochen, die er eigentlich zu einem Projekt für mehr als vier Jahre machen wollte. Scholz ist nur noch Kanzler auf Abruf. In den Umfragen kommt er seit Monaten auf dürftige Werte, während sein Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in allen Politiker-Ranglisten stabil auf Platz eins steht.
Unter der Hand gibt es in der SPD schon lange eine Debatte über eine Einwechslung des Niedersachsen Pistorius als Ersatzkandidaten. Sie brach sich aber erst Bahn, nachdem der Vorstand vergangene Woche darauf verzichtete, in seiner ersten Sitzung nach der Entscheidung für eine Neuwahl des Bundestags für klare Verhältnisse zu sorgen.
Scholz hat viel Regierungserfahrung. Vor seinen drei Jahren als Bundeskanzler war er unter der CDU-Kanzlerin Angela Merkel sowohl Arbeitsminister als auch Finanzminister. Außerdem hat er sieben Jahre lang Hamburg als Erster Bürgermeister regiert und weiß daher auch sehr genau, wie die Länder ticken. Er steckt tief in allen Themen und hat auch schon gezeigt, dass er schlechte Umfragewerte drehen kann. Bei der letzten Bundestagswahl lag er zweieinhalb Monate vor dem Termin 16 Prozentpunkte hinter seinem Konkurrenten Armin Laschet von der CDU – und gewann.
Er gilt als authentisch und zupackend und ist wohl vor allem deswegen in allen Umfragen beliebtester Politiker. Außerdem ist er ein frisches Gesicht im Wahlkampf, das die Union erst einmal ziemlich verunsichern könnte. Denn die hat sich bisher ganz auf Scholz eingestellt. Pistorius könnte für einen neuen Motivationsschub bei den Wahlkämpfern der SPD sorgen. Und er könnte unter den Wählern einige derjenigen mobilisieren, die sich frustriert vom Berliner Politikbetrieb abwenden.
Der Vorstand der SPD, dem 34 Politiker angehören. Geführt wird er von den Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken sowie von Generalsekretär Matthias Miersch, die sich alle drei schon vor dem Aus der Ampel-Koalition hinter Scholz gestellt haben. Dem Gremium gehört auch Pistorius an, Scholz allerdings nicht. Der Kanzler nimmt aber in der Regel an den Vorstandssitzungen teil. Die Entscheidung der Parteiführung muss dann noch vom Parteitag am 11. Januar bestätigt werden. In der Regel gilt das aber als Formsache.
Laut SPD-Chef Lars Klingbeil gibt es einen in der SPD-Spitze abgestimmten Fahrplan. „Den Zeitpunkt, den haben wir als Führung abgesprochen“, sagte er in einem Podcast des „Bild“-Journalisten Paul Ronzheimer. Man sei sich einig, wann welche Schritte erfolgen sollten. Verraten wollte Klingbeil sie aber noch nicht. „Ich werde die Zeitpunkte nicht hier offenlegen, die wir intern abgestimmt haben, und die wir auch brauchen für die Inszenierung.“
Am 30. November muss jedenfalls Klarheit herrschen. Dann will die SPD ihren Kanzlerkandidaten auf ihrer „Wahlsiegkonferenz“ erstmals groß präsentieren und den Wahlkampf einläuten. Bis dann sind es noch zehn Tage. In diesem Zeitraum wird die Entscheidung eher früher als später erwartet. Für kommenden Montag ist eine reguläre Vorstandssitzung geplant. Das Spitzengremium könnte aber auch noch früher oder später zu einer Sondersitzung zusammenkommen, um eine Entscheidung zu treffen.
Noch ein wichtiger Termin: Von Freitag bis Sonntag findet in Halle an der Saale der Bundeskongress der Jungsozialisten mit 300 Delegierten statt, zu dem auch Vertreter der Parteiführung erwartet werden. Am Samstag werden dort die Vorsitzende Esken, Generalsekretär Miersch und Arbeitsminister Hubertus Heil reden. Wenn sie dort noch keine Entscheidung präsentieren können, dürfte der Kongress für sie ein ziemlicher Spießrutenlauf werden.
In den vergangenen Tagen haben sich erst einzelne Kommunal- und Landespolitiker, später auch drei Bundestagsabgeordnete offen für Pistorius ausgesprochen. Viel Aufmerksamkeit bekam eine Erklärung der beiden Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen Bundestagsabgeordneten, Dirk Wiese und Wiebke Esdar, in der von „viel Zuspruch für Boris Pistorius“ die Rede war.
Die Parteispitze hat dagegen immer wieder ihre Unterstützung für Scholz bekräftigt, die Debatte damit aber nicht stoppen können. Klingbeil stellte sich auch heute wieder an die Seite von Scholz: „Ich habe mich zur Kanzlerkandidatenfrage klar und unmissverständlich geäußert.“
Am Dienstagabend, kurz bevor Scholz aus Rio abflog, schaltete sich die engere Führung zur Vorbereitung des Wahlkampfs zusammen. Die K-Frage wurde dabei noch nicht abschließend geklärt.
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