Im Ringen um mehr lebensrettende Organspenden kommt ein neuer Anlauf für Änderungen der Spenderegeln in Gang. Eine Abgeordnetengruppe stellte eine fraktionsübergreifende Initiative im Bundestag vor, die auf die Einführung einer Widerspruchsregelung zielt. Das hieße, dass zunächst alle als Organspender gelten - außer jenen, die aktiv widersprechen.
Derzeit sind Organentnahmen in Deutschland nur mit ausdrücklicher Zustimmung erlaubt. Ein erster Anlauf für eine solche Reform war 2020 gescheitert. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unterstützt den neuen Versuch, um das „Sterben auf der Warteliste“ zu beenden.
Mehr Organe wie Nieren, Lebern oder Herzen für schwer kranke Patienten werden seit Jahren dringend benötigt. Im vergangenen Jahr gaben 965 Menschen nach ihrem Tod ein Organ oder mehrere Organe für andere frei, wie die koordinierende Deutsche Stiftung Organtransplantation ermittelte. Zugleich standen aber 8400 Menschen auf Wartelisten. Damit Spenden überhaupt infrage kommen, müssen zwei Fachärzte unabhängig voneinander den Hirntod eines Verstorbenen feststellen.
Die SPD-Politikerin Sabine Dittmar sagte bei der Vorstellung der neuen Initiative in Berlin: „Wir sind schlicht und ergreifend nicht zufrieden mit den Zahlen.“ Seit Jahren stagnierten Organspenden trotz vieler Maßnahmen für bessere Bedingungen auf niedrigem Niveau. „Täglich versterben uns drei Menschen auf der Warteliste.“ Lauterbach, der den Antrag als Abgeordneter schon unterzeichnet hat, sagte: „Wir müssen uns ehrlich machen: Ohne dass wir allen zumuten, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, werden die Organspendezahlen nicht signifikant steigen.“
Die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann sagte, die Widerspruchslösung sei kein Allheilmittel, stehe aber für einen Mentalitätswechsel: „Keine aktive Dokumentation der Zustimmung, sondern eine aktive Dokumentation des Widerspruchs.“ Peter Aumer von der CSU sagte, das bisherige System sei „auf Nicht-Spenden gestellt“. Die Linke Petra Sitte warb dafür, die Perspektive der Wartenden einzunehmen, was auch eine Gerechtigkeitsfrage sei. Der Freidemokrat Christoph Hoffmann sagte, sollten die Pläne scheitern, gäbe es als Variante noch eine verpflichtende Bürger-Abfrage.
Konkret soll das Transplantationsgesetz geändert werden, das die Entnahme von Organen derzeit nur zulässt, wenn der Spender oder die Spenderin eingewilligt hat. Künftig sollen Organentnahmen laut Entwurf möglich sein, wenn Volljährige und Einwilligungsfähige „nicht widersprochen“ oder „eingewilligt“ haben. „Zentral ist weiterhin das Recht der oder des Einzelnen, sich für oder gegen eine Organ- oder Gewebespende zu entscheiden.“ Vorgesehen ist eine umfassende Aufklärung und Information vor Inkrafttreten des Gesetzes und fortlaufend auch danach. Vorab sollen alle ab 18 Jahren einmal schriftlich über die neuen Regeln informiert werden.
„Der Möglichkeit eines Widerspruchs kommt in Zukunft eine besondere Bedeutung zu“, heißt es im Entwurf. Ein erklärter Widerspruch müsse verlässlich und jederzeit auffindbar sein und vor einer Entscheidung über eine Organentnahme berücksichtigt werden. Dokumentieren könne man ein Ja oder Nein in einem neuen Online-Register, einem Organspendeausweis, einer Patientenverfügung oder anders schriftlich oder mündlich. Vor einer Organentnahme sollen auch Angehörige gefragt werden - aber nur als Boten eines ihnen bekannten Willens. Ihnen werde die Last genommen, den „mutmaßlichen Willen“ Verstorbener zu interpretieren, sagte Armin Grau (Grüne).
Für Minderjährige sollen die Eltern einen Widerspruch erklären können. Gedacht ist auch an eine Regelung für Urlauber und andere, die nur vorübergehend im Land sind: Wenn keine Erklärung vorliegt, soll in den ersten zwölf Monaten nach Einreise der nächste Angehörige zustimmen müssen, danach gilt die Widerspruchsregelung.
Einen Beschluss im Bundestag strebt die Abgeordnetengruppe noch in dieser Wahlperiode möglichst bis zum Frühjahr 2025 an. Bis die neuen Regeln greifen, dürfte es dann wegen nötiger Vorbereitungen aber bis 2027 dauern. Zu erwarten sei, dass es im Bundestag auch noch einen anderen Antrag gibt, sagte Connemann. Folgen sollen dann eine offene Debatte im Plenum und eine Expertenanhörung.
Zu dem Vorstoß wurden auch schon Einwände laut. Die FDP-Rechtspolitikerin Katrin Helling-Plahr warnte vor einem massiven Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen. „Anstatt auf staatliche Bevormundung zu setzen, sollten wir die selbstbestimmte Entscheidung über eine Spende verbindlicher gestalten.“ Darüber, wie dies ausgestaltet werden könne, werde man im Bundestag diskutieren. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, kritisierte in der „Augsburger Allgemeinen“: „Wer schweigt, stimmt nicht automatisch zu.“
Lauterbach hatte sich bereits 2020 wie der damalige Minister Jens Spahn (CDU) im Bundestag für eine ähnliche Widerspruchslösung starkgemacht. Beschlossen wurde aber ein Gesetz, das das Zustimmungsprinzip bestätigte. Es sieht mehr Information und eine leichtere Dokumentation von Erklärungen zur Spendebereitschaft vor. Ein zentrales Online-Register als Kernelement des Gesetzes startete aber erst mit zwei Jahren Verspätung im März 2024. Eingetragen wurden bisher 132.000 Erklärungen, wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte als Betreiber mitteilte.
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