Familiäre Wunden, die über Generationen nicht verheilen, haben thematisch das diesjährige Wettlesen um den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis geprägt.
Der aus Sarajevo stammende und in Kaiserslautern lebende Autor Tijan Sila setzte sich im österreichischen Klagenfurt bei der Abstimmung der Jury in einem breiten Favoritenfeld durch. Für seinen Text mit dem selbsterklärenden Titel „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ erhielt er den Hauptpreis. Die von der Stadt Klagenfurt gestiftete Ehrung ist mit 25.000 Euro dotiert und nach der dort geborenen Literatin Ingeborg Bachmann (1926-1973) benannt.
Der 1981 geborene Sila erzählt in seinem Text nicht nur von einer Mutter, die unvermittelt schizophren wird, sondern auch von einem Vater, der von einer Sammelwut in ein krankhaftes Vermüllungssyndrom abgleitet. Der Horror der Jugoslawienkriege wird teils erschütternd, teils komisch beschrieben - etwa mit einer Tante, die beim Stillen ihres Neugeborenen von einer Granate getötet wird, oder mit dem zerstörten Büro der Mutter, das aussieht „wie eine Mikrowelle, in der eine Schüssel Moussaka explodiert war“.
Juror Philipp Tingler sprach in seiner Preisrede für Sila nicht nur von seiner einzigartigen sprachlichen „Mischung aus Pointiertheit, Tragikkomik und Melancholie“, sondern auch von dem Aufbau der Erzählung, die nicht mit Verzweiflung endet, sondern mit einem Aufbegehren gegen die Weitergabe des Schmerzes von Eltern auf Kinder. Sila rang nach der Preisübergabe erst einmal um Worte. „Noch fasse ich es nicht ganz, aber euphorisch bin ich dennoch“, sagte er.
Sila kam 1994 als Kriegsflüchtling nach Deutschland. In Heidelberg studierte er Germanistik und Anglistik. Heute schreibt er nicht nur, sondern unterrichtet auch als Lehrer in einer Schule. Sein jüngstes Buch „Radio Sarajevo“ über das Überleben in der belagerten Stadt erschien voriges Jahr; sein Bachmann-Text ist Teil seines nächsten Romans.
Neben Silas „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ standen beim diesjährigen Bachmann-Wettbewerb noch eine Reihe anderer Trauma-Erzählungen zur Auswahl. Die aus Slowenien stammende und in Wien lebende Tamara Stajner gewann am Sonntag den mit 10.000 Euro dotierten Kelag-Preis für „Luft nach unten“. Der an eine gleichzeitig liebevolle, gewaltvolle und krankhafte Mutter gerichtete Text bewegte Stajner beim Vorlesen so sehr, dass sie unter Tränen beinahe abbrechen musste. Der Bonner Autor und Staplerfahrer Denis Pfabe beschrieb in „Die Möglichkeit einer Ordnung“ einen Mann, der versucht, mit ausufernden Bestellungen in einem Baumarkt über den Verlust eines Kindes hinwegzukommen. Dafür erhielt er den Deutschlandfunk-Preis im Wert von 12.500 Euro.
Unbelohnt blieb Henrik Szantos kunstvolles Sprachkaleidoskop „Eine Treppe aus Papier“, in der tote und lebende Bewohner eines Hauses durcheinandergewirbelt werden - von der NS-Zeit bis zur Gegenwart. Auch Miedya Mahmods sprachlich noch radikalerer Text „Es schlechter ausdrücken wollen. Oder: Ba,Da“, in dem Krieg, Verwundungen und Familie eine Rolle spielen, ging leer aus. Trotz der thematischen Schwere deuteten all diese ausgezeichneten und nicht ausgezeichneten Texte einen Willen an, die geschichtlichen und historischen Traumata zu überwinden.
Eine Kandidatin setzte hingegen auf befreiendes Lachen statt Betroffenheit und wurde dafür mit dem Publikumspreis und dem 3sat-Preis belohnt: Johanna Sebauer überzeugte in Klagenfurt mit ihrer Satire „Das Gurkerl“, in der ein Gewürzgurken-Spritzer ins Auge eines Journalisten eine mediale und gesellschaftliche Eskalationsspirale zum Thema Sauergemüse in Gang setzt. Die in Österreich geborene und in Hamburg lebende Autorin scherzte am Sonntag, dass für sie Gurken vorerst nicht mehr auf dem Speiseplan stehen. „Es könnte sein, dass ich eine Pause brauche nach diesem Gurkerlwahnsinn“, sagte sie.
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