Sie schlafen auf der Straße, unter Brücken, in Zelten oder kommen bei Freunden und Verwandten unter: Hunderttausende Menschen in Deutschland haben keine eigene Wohnung. Die Bundesregierung hat zugesagt, ihnen allen bis 2030 angemessenen und bezahlbaren Wohnraum anzubieten.
Das Kabinett beschloss am Mittwoch einen von Bauministerin Klara Geywitz vorgelegten Aktionsplan. „Gemeinsam für ein Zuhause“, heißt das Papier. Vertreter der Betroffenen vermissen allerdings konkrete Lösungen - vor allem zur Frage, wie Wohnungslose angesichts der Konkurrenz auf dem Mietmarkt an diese Wohnungen kommen sollen. Auch zusätzliche Mittel aus dem Bundeshaushalt sind zunächst nicht vorgesehen.
„Die Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist eine Mammutaufgabe“, sagte die SPD-Politikerin Geywitz beim Besuch einer Arztpraxis für Obdachlose in Berlin. Der Aktionsplan sei daher erst ein Anfang. Wichtige Fragen müssten noch geklärt werden, wie etwa die Finanzierung einer besseren Ausstattung von Notunterkünften.
Wie viele Menschen in Deutschland keine Wohnung haben, weiß niemand genau. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht in ihren aktuellsten Schätzungen davon aus, dass im Verlauf des Jahres 2022 insgesamt 607.000 Menschen betroffen waren - manche temporär, manche das ganze Jahr.
Die offensichtlichste Form der Wohnungslosigkeit ist Obdachlosigkeit - wenn Menschen im Freien, in U-Bahnhöfen, Zelten oder Abbruchhäusern schlafen. Rund 50.000 lebten laut Schätzung im Jahr 2022 ganz ohne Unterkunft auf der Straße. Noch größer - aber versteckter - ist der Anteil der Menschen, die aus Mangel an eigener Wohnung bei Freunden oder Verwandten unterkommen.
Insgesamt stieg die Zahl der Wohnungslosen den Schätzungen zufolge zuletzt sehr deutlich, vor allem durch Flüchtlinge aus der Ukraine. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan, betonte: „Auch Eingewanderte oder Geflüchtete sollen möglichst schnell selbstbestimmt in vier Wänden wohnen.“ Oft aber hätten Bewerber mit ausländischen Nachnamen oder Kopftuch Nachteile bei der Wohnungssuche.
Zur Wohnungslosigkeit listet das Bauministerium eine ganze Reihe von Ursachen auf. Jeder Vierte habe Mietschulden gehabt - aus den unterschiedlichsten Gründen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Sucht oder Schicksalsschlägen. Viele hätten ihre Wohnung nach Trennung, Scheidung oder dem Tod geliebter Menschen verloren. Junge Leute würden aus dem Elternhaus geworfen. Nicht wenige - vor allem Frauen - flüchteten vor Partnerschaftsgewalt. Auch Kündigungen wegen Eigenbedarfs der Vermieter führten dazu, dass Menschen buchstäblich auf der Straße landeten.
Alle haben gemein, dass ihnen plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird. „Die Straße, das ist ein Leben von der Hand in dem Mund. Man ist heute hier, morgen da. Man weiß eigentlich manchmal nicht, ob es einen Morgen gibt“, berichtete der Autor und ehemalige Wohnungslose Dominik Bloh. Lange habe er versucht, auch auf der Straße Teil der Gesellschaft zu bleiben. „Ich wollte dazugehören, aber ich habe das auch oft verloren.“
Rund 39 Prozent der Betroffenen hatten laut Wohnungslosenbericht des Bundes noch nie eine eigene Wohnung in Deutschland - darunter sind viele Geflüchtete, aber auch junge Erwachsene, die freiwillig oder gezwungenermaßen aus dem Elternhaus ausziehen.
Besonders in den Metropolen ist die Konkurrenz um bezahlbare Wohnungen hoch - so hoch, dass Wohnungslose kaum eine Chance haben, selbst eine Unterkunft zu finden. Notunterkünfte sind keine Dauerlösung - auch wenn viele Betroffene monatelang hier unterkommen. Andere nutzten die Hilfe gar nicht, heißt es im Aktionsplan des Bauministeriums. Sie kämen nicht klar mit so vielen Menschen auf engem Raum, mit dem Mangel an Privatsphäre, erlebten Gewalt und Diebstahl. Außerdem gebe es zu wenig Angebote spezifisch für Frauen oder Hilfesuchende mit Haustieren.
Doch das ist nicht das einzige Problem: Wer auf der Straße lebt, ist häufig gesundheitlich angeschlagen. Doch einen Hausarzt zu finden, ist besonders für Obdachlose schwierig. Ihr Versicherungsstatus sei oft nicht geklärt. Dazu komme Scham, die Angst vor Sprachproblemen. Dabei hätten viele Wohnungslose Traumata, weil Gewalt für sie auf der Tagesordnung stehe. Bloh berichtete von Kämpfen um Schlafsäcke, aber auch von roher Gewalt durch Jugendliche, die gezielt Obdachlose angriffen.
Laut Koalitionsvertrag wollen SPD, Grüne und FDP „bis 2030 Obdach- und Wohnungslosigkeit überwinden“. Zuständig für die Versorgung mit Wohnraum sind zwar in erster Linie Kommunen und Länder, die Ampel will aber für stärkere Zusammenarbeit sorgen. Kernziel sind mehr bezahlbare Wohnungen und das Verhindern von Wohnungsverlust. Bund, Länder und Kommunen sollen prüfen, ob sie Wohnungslose bei ihrer Wohnraumförderung ausreichend berücksichtigt haben. Das Bauministerium verweist darauf, dass schon jetzt Rekordsummen in den sozialen Wohnungsbau investiert würden. Außerdem sei das Wohngeld verdoppelt und für deutlich mehr Haushalte zugänglich gemacht worden.
Bei Mietschulden soll es bessere Beratung und Hilfe beim Abstottern geben. Gemeinsam sollen auch Mindeststandards für Notunterkünfte erarbeitet werden, die mehr Privatsphäre ermöglichen sollen. „Frauen und Männer sollen getrennt untergebracht werden können, wenn sie das möchten“, erklärte Geywitz. Alle Wohnungslosen sollen zudem Zugang zur Krankenversicherung bekommen. Damit sie am öffentlichen Leben teilnehmen und zum Beispiel auch Wohnungsinserate finden können, soll kostenloses WLAN ausgebaut werden.
Sozialverbände und Vertreter von Betroffenen erklärten zunächst einmal, es sei gut, dass die Bundesregierung das Problem anpacke. Im Aktionsplan fehlen ihnen allerdings mehr konkrete Lösungsansätze. Im Mietrecht zum Beispiel fehle eine Reform zur Schonfristzahlung, erklärten die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe und der Mieterbund. Dabei geht es um die Frage, ob eine Kündigung bei Nachzahlung von Mietschulden noch wirksam ist oder nicht. Die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft dagegen warnte vor Eingriffen ins Mietrecht. „Statt Investitionsbremsen in Form von immer schärferen Mietrechtseingriffen helfen den Wohnungssuchenden nur neue bezahlbare Wohnungen, deren Bau wieder ermöglicht werden muss“, erklärten die Spitzenverbände der Branche. Die Diakonie kritisierte: „Es fehlt an konkreten, wirksamen sozialen und wohnungsbezogenen Maßnahmen zur Schaffung von Wohnraum für wohnungslose Menschen sowie zur Verhinderung von Wohnungsverlusten.“
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