Sollen Spitzenverdiener stärker zur Kasse gebeten werden - um die Lasten der Energiekrise gerechter zu verteilen? Darum geht es im Kern bei einem Vorschlag der „Wirtschaftsweisen“, der viel Wirbel ausgelöst hat.
Der Sachverständigenrat spricht sich in seinem Jahresgutachten für einen befristeten Energie-Solidaritätszuschlag oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes aus, auch um die Staatsfinanzen zu schonen. Es gehe darum, die Energiekrise solidarisch zu bewältigen, sagte die Vorsitzende des Sachverständigenrates, Monika Schnitzer, am Mittwoch in Berlin. Finanzminister Christian Lindner (FDP) schloss Steuererhöhungen aus.
Die Wirtschaftsweisen rechnen zugleich damit, dass Deutschland wegen der Energiekrise im kommenden Jahr in eine Rezession schlittert. Sie sind aber etwas optimistischer als die Bundesregierung. Die Inflation bleibt laut Prognose hoch.
Der Hauptkritikpunkt des Sachverständigenrates an den bisherigen milliardenschweren Entlastungspaketen der Politik ist, dass sie nicht zielgenau genug seien. Auch einkommensstarke Haushalte hätten von Maßnahmen wie dem Tankrabatt und Energiepauschalen profitiert - obwohl sie sich die höheren Energiepreise eigentlich leisten könnten.
Es gehe aber darum, vor allem untere und mittlere Haushalte zu entlasten, die am Ende des Monats kein Geld mehr übrig und nichts oder wenig auf der hohen Kante hätten, sagte Schnitzer. Es werde deswegen „zuviel Geld ins System“ gegeben. Der Staat müsse noch mehr Schulden aufnehmen und die Inflation werde weiter angeheizt.
Schnitzer sprach von einem Gesamtpaket aus Ent- und Belastungen, das wirklich solidarisch sei und damit zielgenau. Deutschland sei durch die vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöste Energiekrise ärmer. „Irgendjemand muss das zahlen.“ Dies sollten nicht nachfolgende Generationen sein. Höhere Belastungen für Besserverdienende sollten so lange andauern, bis Entlastungsmaßnahmen wirkten. Das sei Stand jetzt bis Anfang 2024 absehbar.
Wie genau ein Energie-Soli oder ein höherer Spitzensteuersatz aussehen könnte, sagten die Wirtschaftsweisen nicht. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent greift aktuell ab einem zu versteuernden Einkommen von 58.597 Euro. Lindner plant, diesen 2023 auf 62.827 Euro anzuheben, für 2024 soll er ab einem Jahreseinkommen von 66.779 Euro erhoben werden.
Neben anderen Maßnahmen soll dies dazu dienen, dass die sogenannte kalte Progression ausgeglichen wird - eine inflationsbedingte heimliche Steuererhöhung. Die Grenze für den noch höheren Reichensteuersatz von 45 Prozent will die Bundesregierung bewusst nicht antasten, weil sie in dieser Einkommensklasse keine zusätzliche Entlastung für nötig hält.
Die Wirtschaftsweisen halten diese Maßnahme zwar generell für richtig - aber der Abbau der kalten Progression sollte verschoben werden, sagte der Ökonom Achim Truger. Es gehe um eine zielgenaue Entlastung unterer und mittlerer Einkommensgruppen, die öffentlichen Haushalte sollten nicht überstrapaziert werden.
Der Chef der Gewerkschaft Verdi, Frank Werneke, forderte, die Lasten der Krise müssten sozial gerecht verteilt werden. „Deswegen ist eine umverteilende Steuerpolitik überfällig.“ DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell sagte, es brauche nicht nur temporär, sondern dauerhaft ein gerechteres Steuersystem. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sagte der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“, die „Wirtschaftsweisen“ griffen Forderungen der SPD auf, Besserverdienende und Menschen mit sehr hohen Vermögen stärker an der Bewältigung der Krisen zu beteiligen.
Dagegen sagte für die Wirtschaft etwa der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Martin Wansleben, eine temporäre Erhöhung des Spitzensteuersatzes wäre für die Millionen von mittelständischen Unternehmen ein „Schlag ins Kontor“. Viele Firmen kämpften gerade jeden Tag darum, zukunftsfähig zu bleiben.
FDP-Chef Lindner sagte, Deutschland erlebe eine wirtschaftliche Abkühlung und stark gestiegene Preise. „Was wir jetzt tun müssen, ist doch, Schaden von unserer wirtschaftlichen Substanz abzuwenden, Arbeitsplätze sicher zu halten und Zukunftsinvestitionen zu ermöglichen“, sagte Lindner. „Und deshalb wären in einer Phase wirtschaftlicher Unsicherheit zusätzliche Belastungen bei der Steuer enorm gefährlich.“ Ein solches Experiment wolle die Bundesregierung nicht unternehmen.
Der Sachverständigenrat nimmt auch bei der Schuldenbremse eine andere Position ein als die Bundesregierung. Im Gutachten heißt es, die Folgen des Krieges in der Ukraine könnten die erneute Ausnahme von der Schuldenbremse 2023 rechtfertigen. Vor allem Lindner will die in den vergangenen Jahren wegen der Pandemie ausgesetzte Schuldenbremse wieder einhalten. Diese erlaubt nur eine geringe Nettokreditaufnahme.
Angesichts der Folgen der Energiekrise rechnen die Wirtschaftsweisen nach einem leichten Wachstum in diesem Jahr damit, dass 2023 das Bruttoinlandsprodukt um 0,2 Prozent schrumpft. Die Bundesregierung erwartet ein Minus von 0,4 Prozent. Seit Mitte des Jahres führten die stark gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise zu immer stärkeren Kaufkraftverlusten und dämpften den privaten Konsum, so der Sachverständigenrat. Gleichzeitig belaste die Energiekrise die Produktion, insbesondere in den energieintensiven Industriezweigen. Die globale Abkühlung schwäche die Exportnachfrage.
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