Seit einem Jahr dreht sich in Saal 120 des Koblenzer Oberlandesgerichts alles um Entführungspläne, Verschwörungsmythen und „Reichsbürger“-Fantasien. Vor Gericht stehen fünf Angeklagte, die geplant haben sollen, Deutschlands Regierung zu stürzen, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zu entführen und eine neue Verfassung nach dem Vorbild des Kaiserreichs 1871 auszurufen. Am Freitag vor einem Jahr startete der Prozess gegen die Gruppe namens „Vereinte Patrioten“, doch noch ist kein Ende in Sicht.
Als Erstes kamen vor rund einem Jahr zunächst die Angeklagten selbst zu Wort - und das nicht zu kurz. Zunächst äußerte sich Sven Birkmann, der mit vollem Namen genannt werden möchte, zu den Vorwürfen. Die geplante Entführung Lauterbachs bezeichnete er als „Showelement“. Ziel sei es gewesen, zu zeigen: „Seht her, wir können das.“ Den Bundesgesundheitsminister selbst bezeichnete er mehrfach als „das Karlchen“.
Laut einer von seinem Verteidiger vorgelesenen Erklärung war vor allem die Corona-Politik in Deutschland ausschlaggebend für das Handeln des Mannes. „Wenn ich hier rauskomme, bin ich definitiv ohne Job, mittellos und ohne Familie“, sagte er. Auf die Frage der Richterin, ob es das wert gewesen sei, antwortete er: „Wenn es geklappt hätte, vielleicht.“
Ein 45 Jahre alter Angeklagte bestritt die Vorwürfe. Sein Anwalt sagte, niemand habe den Beteiligten zugetraut, ihre angeblichen Pläne auszuführen, es habe sich vielmehr um „Hirngespinste“ gehandelt.
Über mehrere Tage hinweg zog sich die Aussage der einzigen weiblichen Angeklagten. Die 76-Jährige bestritt die Vorwürfe - und präsentierte stundenlang antisemitische Erzählungen und „Reichsbürger“-Ideologien. So bezeichnete sie etwa Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als „Geschäftsführer“, sprach von einer Nazisiedlung in der Antarktis und davon, dass die Verzichtsurkunden des Kaisers Fälschungen seien.
Anwalt Patrick Schladt, der gemeinsam mit Anwalt Thomas Fauth einen 52-jährigen Angeklagten vertritt, betonte, es gebe erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Leuten. Ihr Mandant stehe in der Hierarchie an unterster Stufe.
Ein Jahr Prozess bedeutet auch: viel Zeit für Inszenierungen. Es sei eine gängige Strategie von sogenannten Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern, Gerichtsverfahren als Bühne für die Verbreitung ihrer Ideologie zu nutzen, sagt etwa der Politikwissenschaftler Jan Rathje vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), der sich seit Jahren mit Rechtsextremismus und den „Reichsbürgern“ auseinandersetzt.
„Die Äußerungen sollen dazu dienen, die Existenz einer mutmaßlich existierenden geheimen jüdischen Fremdherrschaft über die Deutschen in den Gerichtsverhandlungen zu entlarven und damit das Deutsche Reich wieder handlungsfähig zu machen“, sagt Rathje. Die 76-jährige Angeklagte könne diesem offen antisemitischen Milieu der sogenannten Reichsbürger zugeordnet werden.
Die Gruppe, in der es durchaus unterschiedlichste Strömungen gibt, behauptet, dass das Deutsche Reich (1871-1945) weiter existiert. Die Bundesrepublik und ihre Gesetze erkennen die Mitglieder nicht an - und auch nicht deren rechtsstaatliche Strukturen, Parlamente oder Gesetze. Und sogenannte Reichsbürger weigern sich auch oft, Steuern, Bußgelder oder Sozialabgaben zu zahlen.
„Bei allen skurril anmutenden Vorstellungen, die innerhalb des Milieus vertreten werden, sollte das Gefahrenpotenzial von deren Mitgliedern nicht unterschätzt werden“, sagt Rathje. Die aktuellen Prozesse verdeutlichten, dass einige auch zum Mittel der Gewalt griffen, um ihre Weltordnungsvorstellungen umzusetzen. „Es handelt sich also nicht bloß um harmlose „Spinner”.“
Wie ernst zu nehmen die Angeklagte tatsächlich ist, muss ein Gutachter entscheiden, der den Prozess verfolgt. Ob die Pläne konkret genug waren, um strafbar zu sein, ist ein entscheidender Punkt in dem Prozess.
Der Prozess ist auch für das Gericht eine Herausforderung. Bis einschließlich gestern gab es in dem Prozess 53 Verhandlungstage, 23 Zeugen wurden vernommen, drei Sachverständige gehört. Und es wurden zahlreiche aufgezeichnete Telefonate und Gespräche abgespielt; darin war etwa von einem Brief an den russischen Präsidenten Wladimir Putin und von der „Abschaltung“ der Bundesrepublik die Rede.
Das Verfahren gegen die fünf Angeklagten könnte das Gericht noch eine Weile beschäftigen. „Letztendlich ist es noch ein guter Aktenberg, der vor uns liegt, auch wenn wir uns langsam, denke ich doch, am Gipfelpunkt bewegen“, sagt Anwalt Schladt.
Und es ist zurzeit bei Weitem nicht das einzige Verfahren gegen mutmaßliche Reichsbürger. Am kommenden Dienstag beginnt vor dem Oberlandesgericht Frankfurt der Prozess um die „Reichsbürger“-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Dafür wurde extra eine Leichtbauhalle aus Metall mit rund 1300 Quadratmeter Fläche am Stadtrand der Mainmetropole gebaut, weil seit längerem feststand, dass das eigentliche Gerichtsgebäude saniert werden muss.
Die Gerichtsverhandlung um den militärischen Arm der Gruppe „Reuß“ hatte Ende April in Stuttgart begonnen. Und in München stehen zudem ab dem 18. Juni die übrigen mutmaßlichen Mitglieder der Reuß-Gruppe vor Gericht.
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