Immer neue Streiks bei der Bahn, Warnstreiks im Luftverkehr - und jetzt auch noch beides gleichzeitig: Gerade Menschen unterwegs spüren, wie Tarifkonflikte gerade eskalieren. Auch im Nahverkehr gibt es Warnstreiks, und die Straße ist manchmal von protestierenden Bauern blockiert, die ebenfalls um ihre Einkommen ringen. An vielen Stellen geht es gerade darum, wie der Wohlstand verteilt wird, und die Stimmung ist mitunter gereizt. Sind da auch Streiks in Deutschland mittlerweile härter als früher?
Ja, meint etwa Hagen Lesch, der Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. „Die Tarifauseinandersetzungen sind schon im letzten Jahr härter als in den Jahren davor geführt worden“, sagte Lesch der dpa. Das arbeitgebernahe Institut misst das Ausmaß der Tarifkonflikte seit 2010 in ausgewählten Branchen mit einem Punktesystem. „Seit 2010 haben wir keinen so hohen Konfliktwert wie im letzten Jahr gehabt.“ Zwar gebe es noch keine Auswertung für das erste Quartal 2024. „Aber es deutet sich an, dass wir im laufenden Jahr ein ähnlich hohes Niveau behalten werden wie wir es im letzten Jahr hatten.“
Ein Grund ist die hohe Inflation der letzten Jahre. Die Preise stiegen zeitweise schneller als die Gehälter. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts gab es im vergangenen Jahr das erste kleine Reallohnplus seit 2019 - ein Zuwachs von 0,1 Prozent, wozu jedoch auch einmalig gezahlte Inflationsausgleichsprämien beitrugen. Die Gewerkschaften gingen in die Offensive, um wieder Kaufkraftgewinne zu erzielen, meint Lesch.
Auf der anderen Seite steht eine schwache Konjunktur. Im vergangenen Jahr ist Deutschland insgesamt mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent bereits in eine Rezession gerutscht. Volkswirte rechnen damit, dass die Schwäche zunächst anhält.
Das mindere auf Arbeitgeberseite die Bereitschaft für Zugeständnisse, sagte IW-Experte Lesch. „Wir haben also offensiv agierende Gewerkschaften in einem Umfeld, wo die Unternehmen die Spendierhosen eher etwas enger schnallen.“ Da sei es naturgemäß schwieriger, zu Kompromissen zu kommen. Hinzu komme, dass bestimmte Gewerkschaften durch aktive Tarifbewegungen Mitglieder gewinnen wollten und damit teilweise auch schon erfolgreich gewesen seien. „Insofern muss man auch befürchten, dass auch andere Gewerkschaften, die bislang friedfertiger waren, das mal ausprobieren wollen.“
Die Sozialwissenschaftlerin Irene Dingeldey vom Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen hebt hervor, dass die Streiks noch lange nicht ihre härteste Form angenommen haben. „Das wären unbefristete Streiks und die haben wir noch gar nicht“, sagte die Sozialwissenschaftlerin der Deutschen Presse-Agentur. Aber es gebe natürlich eine gewisse Häufung von Streiks vor allem im Transportsektor. „Die fallen uns mehr auf, weil wir die Auswirkungen spüren. Und deshalb erscheinen sie uns vielleicht härter.“ Wenn hingegen etwa in der Metallindustrie gestreikt werde, betreffe dies den Normalbürger nicht unmittelbar.
„Streik ist ein legitimes Instrument der Tarifauseinandersetzung“, betonte Dingeldey. Es sei die einzige Widerstandsform, die Arbeitnehmer hätten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. „Das gehört dazu - ob es uns gefällt oder nicht.“
Gewerkschaften legten derzeit eine gewisse Vehemenz an den Tag. Im Hintergrund stehe der aktuelle Arbeitskräftemangel. Für die Gewerkschaften bedeute das eine „Machtressource“. „Hat sich die Ware Arbeitskraft verknappt, dann wird ein höherer Preis aufgerufen.“ Bei hoher Arbeitslosigkeit hingegen verlören Gewerkschaften an Macht: „Dann fallen die Lohnforderungen geringer aus.“
In welchen Branchen in diesem Jahr noch gestreikt wird, ist offen. Laut Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung laufen zwischen Dezember 2023 und Dezember 2024 für knapp zwölf Millionen Beschäftigte allein von den DGB-Gewerkschaften vereinbarte Vergütungstarifverträge aus. Im September etwa beginnen die Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie, der größten Tarifbranche mit über 3,6 Millionen Beschäftigten. Ende 2024 laufen die Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden (2,4 Millionen Beschäftigte) aus.
IW-Experte Lesch geht dennoch davon aus, dass die bevorstehenden Tarifauseinandersetzungen in diesem Jahr weniger Auswirkungen haben werden als die aktuellen Konflikte in den Bereichen Luftfahrt und Bahn. „Wenn die großen Konflikte bei den Fluggesellschaften, der Luftsicherheit und bei der Bahn durch sind, werden wir das nicht mehr so stark merken wie im Moment.“ Überraschungen könne es allerdings immer geben.
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