Trauer macht, was sie will, es gibt keine Kontrolle über sie. „Es ist ein Hoch und Runter, alles geht durcheinander, man kann sich auf nichts einstellen, es ist brutal“, erinnert sich Peter Schneider aus der Nähe von Mainz an die Trauer um seine Frau Grit.
Es ist fast sechs Jahre her, als der Sportredakteur abends nach Hause kam und sie tot fand. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Für ihren Mann begann ein Alptraum In seinem Buch „Das schlimmste Geräusch ist die Stille“ beschreibt er, wie „nur meine Hülle“ durch den Wald joggte, er jeden Abend Angst vor dem Sonnenuntergang hatte, an Suizid dachte und irgendwann glaubte, die Trauer gehe nie mehr weg. Aber der 53-Jährige schreibt auch, wie er den Weg in ein Leben ohne Grit und eine neue Liebe gefunden hat.
Wenn ein Mensch unerwartet stirbt, werden die Angehörigen ohne Vorwarnung aus ihrem Alltag gerissen. Das ist oft schwerer zu begreifen und zu verarbeiten als ein absehbarer Tod, sagt Carmen Birkholz. Sie ist Vorsitzende des Bundesverbands Trauerbegleitung in Klingenmünster.
„Wenn man sich auf einen Tod vorbereiten kann, ist das schmerzhaft und es bringt Menschen an ihre Grenzen, doch sie können bewusst Abschied nehmen und noch einmal gemeinsam etwas erleben. Von diesen Erinnerungen zehren sie später.“ Wenn der Sterbende mit seinem nahen Tod offen umgehe, erleichtere das die Trauer ebenfalls.
„Der wichtigste Anker in dieser Trauerzeit ist das soziale Umfeld“, sagt Birkholz. Wer in der Familie oder bei Freunden gut aufgehoben ist, hat es leichter. Zum Umfeld gehören auch Nachbarn, Kollegen und weitere Bekannte, etwa vom Lauftreff oder von sonstigen Hobbys. Auch sie können dem Menschen Stabilität geben, Trauernde sollten nicht ausgegrenzt werden.
„Immer wieder erzählen Betroffene, dass ihnen aus dem Weg gegangen wird. Sie fühlen sich dann wie Aussätzige“, berichtet Birkholz. Schneider erzählt, wie mehrfach die fröhliche Stimmung in einer Gruppe kippte, als er dazu kam. „Das war schlimm.“
Er und die Fachfrau raten, auf trauernde Menschen zuzugehen. Wer nicht weiß, was er sagen soll, kann genau das sagen: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Auch ein Stottern oder nach Worte ringen, sollte nicht gefürchtet werden.
„Es ist wie bei der Ersten Hilfe am Unfallort“, vergleicht Peter Schneider. „Am schlimmsten ist es, nichts zu tun.“ Man solle mit Empathie auf den anderen eingehen und ihn vielleicht in den Arm nehmen, es würden sich schon Gesprächsthemen ergeben. Ein Patentrezept gebe es nicht.
Trauerbegleiterin Carmen Birkholz empfiehlt zudem, in den folgenden Wochen und Monaten nicht darauf zu warten, bis der Trauernde sich meldet, das fällt Menschen in dieser Situation oft schwer.
Immer wieder sollte ihm der Kontakt angeboten und gezeigt werden, dass seine Trauer in Ordnung ist und er dafür die Zeit hat, die er braucht. „Jeder trauert anders und hat andere empfindliche Punkte“, sagt Peter Schneider, dem zum einen seine Freunde in der Trauer unterstützt haben. Sein zweites Standbein war seine Arbeit. Schon gleich am Anfang war er mit der Bitte auf seine Kollegen zugegangen, sie sollten sich verhalten wie immer. Er werde schon sagen, wenn es bei ihm gerade nicht gehe.
Und es ist wichtig, sich auch helfen zu lassen, empfiehlt er. „Ich habe nach jedem Strohhalm gegriffen, den ich finden konnte.“ Einige dieser „Strohhalme“ entpuppten sich als starke Pfeiler im Umgang mit seiner Trauer, dazu gehörten eine Trauerbegleitung und eine Psychotherapeutin.
Peter Schneider lernte, dass Weinen nichts Schlimmes ist, „dabei kann nichts passieren“. Und dass die Trauer sich immer wieder plötzlich und unerwartet zeigen kann. So saß er mit einer Freundin in einer Gaststätte, als er es plötzlich nicht mehr aushielt und heim musste. Eine Urlaubsreise wurde zum Horror, während seine Gefühlslage am gefürchteten ersten Todestag unerwartet stabil war.
„Suchen und nicht finden“, beschreibt Carmen Birkholz diese Phase, in der eine große innerliche Nähe zu dem Verstorbenen empfunden wird. Diese und auch andere Gefühle kommen in einer enormen Stärke, sie können nicht kontrolliert werden. Es hilft, dies zu akzeptieren und sich einen Erste-Hilfe-Plan für schlechte Phasen zu notieren.
Dazu sollte sich überlegt werden, was einem Erleichterung bringen kann: vielleicht Gespräche mit einem Freund, der Gassigang mit dem Hund, die Joggingrunde durch den Wald, Pizza essen, der Anruf bei der Telefonseelsorge oder einfach nur weinen.
Auch Rituale können in dieser Zeit helfen, ebenso das Schwelgen in Erinnerungen, der Gang zum Grab oder das Anzünden von Kerzen. Es ist zudem in Ordnung, sich abzulenken, sich also eine Pause von der Trauer in dieser anstrengenden Zeit zu geben. „An der Trauer heilt man. Der gestorbene Mensch findet zu einem Platz im Inneren“, beschreibt Birkholz den Prozess. Irgendwann sei die Erinnerung an ihn nicht mehr zerreißend, sondern wärmend. Es entstehe Raum für Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit.
Wie lange es bis zu diesem „Irgendwann“ dauert, ist unterschiedlich. Peter Schneider fiel über zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau noch einmal in ein „tiefes Loch“, wie er erzählt. „Das hat mich sehr zermürbt. Ich dachte, es hört nie auf.“
Für Carmen Birkholz ist das keine Ausnahme. Sie hört häufig von verbliebenen Ehepartnern, dass das zweite und dritte Jahr nach dem Tod noch viel schlimmer als das erste gewesen sei. Erschwerend kommt dann hinzu, dass die Menschen von ihrem Umfeld - anders als in der ersten Zeit der Trauer - häufig nicht mehr unterstützt und gehört werden.
Bei Peter Schneider hat sich die Trauer mittlerweile in ein „Vermissen und Erinnern“ gewandelt. Grit sei innerlich immer dabei. Doch er lebt heute ein neues Leben, ist umgezogen, hat noch einmal geheiratet. „Es geht tatsächlich wieder“, sagt er mit einem leichten Staunen in der Stimme. „Das hätte ich mir in der Trauer nie vorstellen können.“
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