Wenige Wochen vor der Bundestagswahl hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Untersuchungsausschuss des Bundestags Vorwürfe zum Atomausstieg gekontert. Der Grünen-Kanzlerkandidat wehrte sich gegen Anschuldigungen, er und sein Ministerium hätten im Jahr 2022 in der Energiekrise nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine einen Weiterbetrieb der verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland nicht ergebnisoffen geprüft. „Es gab keine Denkverbote“, sagte Habeck.
Der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke sei ohne ideologische Vorfestlegungen und ergebnisoffen geprüft worden. Die einzige Frage sei gewesen, ob es der Versorgungssicherheit helfe und umsetzbar sei.
Union und FDP werfen Habeck sowie Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) vor, den Weiterbetrieb nicht „ergebnisoffen“ und „unvoreingenommen“ geprüft, sondern aus ideologischen Gründen entschieden zu haben. Dies habe mit beigetragen zu höheren Strompreisen.
Habeck war im U-Ausschuss als vorletzter Zeuge vor Kanzler Olaf Scholz (SPD) geladen. Der Grünen-Kanzlerkandidat trat angriffslustig auf und ging mehrfach in die Offensive. Er warf den unionsgeführten Vorgängerregierungen vor, Deutschland in eine gefährliche Abhängigkeit von russischem Gas geführt zu haben. Erst die Ampel-Regierung habe 2022 die Gas-Pipeline Nord Stream 2 aus Russland gestoppt, die die Lage noch weiter verschärft hätte. Es müsste eigentlich das Handeln der damaligen Bundesregierung nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 untersucht werden. Die im Jahr 2022 drohende Gasmangellage sei von manchen Akteuren vorgeschoben worden, um den Atomausstieg zu revidieren.
Eine längerfristige Laufzeitverlängerung hätte auf Drängen der FDP dann bis zum Jahr 2024 gereicht, sagte Habeck. „Das wäre also der Wiedereinstieg in die Atomkraft gewesen.“ Mit neuen Brennstäben hätte man die Atomkraftwerke nach seinen damaligen Informationen wohl drei bis fünf weitere Jahre laufenlassen müssen.
Vorhaltungen von Ausschuss-Mitgliedern konterte Habeck. So warf er dem Ausschussvorsitzenden Stefan Heck (CDU) vor, Aussagen nicht mit Akten belegen zu können und Beweismaterial falsch zusammengefasst zu haben.
Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine war die Bundesregierung alarmiert wegen der hohen Abhängigkeit von fossilen Energien aus Russland. Zudem wurden Forderungen laut, die drei noch verbliebenen Kernkraftwerke über das Jahresende 2022 hinaus am Netz zu lassen. Im Jahr 2011 hatte die damalige schwarz-gelbe Regierung nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima einen schrittweisen deutschen Atomausstieg bis Ende 2022 beschlossen.
Im März 2022 ergab eine gemeinsame Prüfung von Wirtschafts- und Umweltministerium, dass eine Verlängerung der Laufzeiten der noch verbliebenen Atomkraftwerke nur einen „sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems leisten könnte, und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken“.
Habeck erklärte, noch im Frühjahr 2022 hätten die Chefs der drei Betreiber der damals noch laufenden Atomkraftwerke gesagt, mit den vorhandenen Brennelementen sei ein Weiterbetrieb über das Jahresende hinaus und damit im Winter nur möglich, wenn diese im Sommer heruntergefahren würden. Die Folge wären aber keine zusätzlichen Strommengen gewesen. Die Folge wäre gewesen, im Sommer mehr Gas zur Stromproduktion einzusetzen. Das wäre wegen ausbleibender russischer Gaslieferungen aber riskant gewesen.
Habeck sagte mit Blick auf die Energiekrise, ein möglicher Weiterbetrieb der Atomkraftwerke sei zu der Zeit nur eins von mehreren Themen gewesen. „Die Hütte brannte ja lichterloh.“ Er verwies zum Beispiel auf den Einkauf von Gas und den Bau von Flüssigerdgas-Terminals an deutschen Küsten. Er habe in dem Krisenjahr in der „bestehenden Notlage“ viele Entscheidungen getroffen. Es sei gelungen, die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft zu schützen.
Im Sommer habe sich die Einschätzung zu Strommengen der Atomkraftwerke verändert. So habe sich die Lage auf den Energiemärkten verschlechtert. Zudem hätten die Betreiber der Atomkraftwerke Aussagen zu potenziellen Strommengen schrittweise korrigiert, so Habeck. Anders als im März von Betreiberseite noch mitgeteilt worden war, stünden bei einem Streckbetrieb doch zusätzliche Strommengen zur Verfügung. Habeck schlug dann vor, zwei der drei Meiler bis Mitte April 2023 in Reserve zu halten und bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung zu nutzen.
Die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland liefen letztlich ein paar Monate länger als ursprünglich geplant - der Atomausstieg verschob sich vom 31. Dezember 2022 auf den 15. April 2023. Davor hatte es nach einem Streit innerhalb der damaligen Ampel-Koalition ein Machtwort von Kanzler Scholz am 17. Oktober 2022 gegeben.
Über ein Treffen zwischen Scholz, dem damaligen Finanzminister Christian Lindner (FDP) und ihm einen Tag zuvor sagte Habeck, Lindner habe damals gesagt, er müsste gezwungen werden, eine Entscheidung zu akzeptieren, die nicht auf eine längerfristige Verlängerung der Laufzeit der verbliebenen deutschen Atomkraftwerke hinauslaufe.
Der Streit im Herbst 2022 drehte sich darum: Die Grünen wollten die beiden süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum 15. April in Reserve halten und bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung nutzen. Das dritte noch verbleibende AKW Emsland hingegen sollte zum 1. Januar 2023 endgültig abgeschaltet werden. Die FDP verlangte angesichts der stark gestiegenen Energiepreise dagegen einen Weiterbetrieb aller drei Kraftwerke bis ins Jahr 2024 und gegebenenfalls die Reaktivierung bereits stillgelegter AKW.
Lindner sagte am Mittwoch im Ausschuss, bei den Grünen sei die Bereitschaft zu undogmatischen Entscheidungen bei der Frage der Kernenergie an Grenzen gestoßen.
Der Ausschuss-Vorsitzende Heck warf Habeck vor Beginn der Sitzung vor, es habe nie eine ergebnisoffene Prüfung gegeben. „Im Gegenteil: Es war ein großangelegtes Täuschungsmanöver.“ Es habe im Wirtschafts- sowie Umweltministerium immer wieder Hinweise und fachliche Einschätzungen von Referenten und Referatsleitern zu der Frage gegeben, ob Kernkraftwerke länger am Netz bleiben sollen. Positive Bewertungen seien, als sie die politische Ebene erreicht hätten, so abgeändert worden, dass sie der politischen Richtung, der Ideologie von Habeck entsprochen hätten.
Der FDP-Politiker Frank Schäffler sagte, es sei deutlich geworden, dass die Grünen das Land „hinter die Fichte“ geführt hätten. Sie hätten immer wieder Sand ins Getriebe gestreut, sagte er mit Blick auf Prüfungen zum Weiterbetrieb der Atomkraftwerke.
In den vergangenen Wochen und Monaten wurden bereits zahlreiche Zeugen im Ausschuss befragt. Ein Abschlussbericht, der Stellungnahmen aus allen Fraktionen enthalten soll, soll noch im Februar der Bundestagspräsidentin vorgelegt werden.
© dpa-infocom, dpa:250116-930-345778/3